Sarum
Porteus mit seinem Idol niemals übereinstimmen konnte.
Warum nur muß der junge Mann seinen widerborstigen Schwager auf diese Weise necken, überlegte Barnikel. Er sah zu Agnes hinüber, die eben ihrem Mann einen flehentlichen Blick zuwarf, und er dachte: Aber darin sollte ich nicht nachgeben.
Ein unangenehmes Schweigen senkte sich über die Runde. Der Kanonikus hatte den Doktor geholt, damit er Ralphs Wankelmut miterlebe. Bisher hatte man lediglich einen Narren aus ihm, Porteus, gemacht. Was Ralph anging, so sah Barnikel sehr wohl, daß er sich nicht mit seinem kleinen Sieg zufriedengeben, sondern bald ein neues Wortgefecht anzetteln würde.
Man war beim Roastbeef angelangt. Barnikel versuchte, das Gespräch auf andere Themen zu lenken. Er sprach über lokale Angelegenheiten, über seine kürzliche Reise an die Küste bei Brighton, wo der Prince of Wales sein abscheuliches Lustschlößchen erbauen ließ. »Er ist höchst leichtfertig in seiner Extravaganz«, meinte Porteus betrübt.
»Natürlich, und Ihr solltet erst einmal sehen, was er da baut«, sagte Barnikel, »es sieht aus wie ein orientalischer Palast für einen indischen Maharadscha.«
Ihre Versuche, die Konversation in den Griff zu bekommen, scheiterten.
Nachdem der Kanonikus zuerst den Doktor, dann seine Frau und schließlich Agnes finster gemustert hatte, verkündete er todernst: »Das wird ein Trauertag, wenn sein Vater einmal stirbt. König Georg III. ist unsere letzte Hoffnung.«
Es schien einfach so dahingesagt, war aber doch wohl genau berechnet. Barnikel sah, daß Ralph Shockley rot anlief. »Hoffnung worauf?«
»Beständigkeit, mein Lieber.«
Wieder sah Agnes ihren Mann flehend an. Ralphs Lächeln war verschwunden. »Du meinst also: keinerlei Veränderung?« fragte er schneidend.
»Genau das. Ich bin gegen religiöse Toleranz, denn das schwächt die Kirche Englands.«
»Und Parlamentsreformen – bist du glücklich darüber, daß das alte Sarum nach Belieben zwei Mitglieder ins Parlament entsendet, während große Gruppen in den Städten des Nordens überhaupt nicht vertreten sind?«
»Es ist viel wichtiger, wie die Parlamentsmitglieder ihre Pflicht dem König gegenüber erfüllen, als wer sie dorthin geschickt hat.«
»Und arme, halbverhungerte Arbeiter sollen in England weiterhin wie Leibeigene vegetieren, und Menschen sollen als Sklaven ins Ausland verkauft werden?« fragte Ralph aufgebracht.
Porteus gab keine Antwort. Er hatte nur vorgehabt, Ralph zu reizen, und das war ihm gelungen.
Ralph zuckte verächtlich die Achseln und blickte Barnikel an. Da er von dort keine Unterstützung bekam, wandte er sich wieder Porteus zu. »Nun, ich bin gegen den alten Despotismus«, erklärte er ärgerlich, »und ich bin für die Menschenrechte und für Charles James Fox. Vielleicht brauchen wir hier einfach eine Revolution«, fügte er, ruhiger geworden, hinzu.
Es folgte eine bedrückende Stille.
Selbst Agnes war schockiert, obwohl sie wußte, daß ihr Mann das nicht im Ernst meinte. »Wie kannst du so etwas sagen, wo Bonaparte auf der anderen Seite des Kanals steht?« warf sie ein. »Ich sage es, weil ich sehr genau sehe, daß in England derzeit die Tyrannei herrscht«, erwiderte er heftig, »wo das Stimmrecht auf einige wenige beschränkt ist, wo keine Religionsfreiheit herrscht, wo die Armen keine Rechte haben.
Die Französische Revolution mag in Despotismus umgeschlagen sein, doch die ursprüngliche Idee war gut: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. An diese Prinzipien glaube ich.« Der Blick, den Porteus zu Barnikel sandte, hieß soviel wie: Da habt Ihr’s! Habe ich es Euch nicht gesagt? Dabei zitterte Porteus’ Hand vor Wut. Agnes sah ihn bittend an. Barnikel mußte versuchen, Frieden zu stiften.
»Laßt mich gegen Euch argumentieren, Ralph«, begann er, »und Ihr, Porteus, seht einmal, ob Ihr meine Beweisführung nicht akzeptieren könnt. Die Franzosen haben einen despotischen König gestürzt. In England dagegen müssen diese unsere Rechte, so unzureichend sie auch sein mögen, keinem Gewaltherrscher abgerungen werden, denn sie haben sich in unserer jahrhundertelangen Geschichte herausgebildet; aus dem sächsischen Gewohnheitsrecht, aus der Magna Charta, aus der parlamentarischen Gesetzgebung, aus den Prinzipien der neuen, im Jahre 1688 eingesetzten Monarchie. Haben wir das Recht, unsere eigenen ererbten Privilegien wegzuwerfen, um einer Utopie willen, die in der Praxis versagt hat? Ich sage: nein. Die meisten Engländer sagen:
Weitere Kostenlose Bücher