Sarum
anderen Seite des Zimmers her. Ja, er war groß und sah gut aus, dachte sie.
Das späte Nachmittagslicht fiel durchs Fenster; sie spürte, wie es ihren Arm wärmte. Ein schwacher Geruch von Bier hing im Raum. Sie mochte das. Ihre Augen blieben an der reinen, weißblauen Steppdecke hängen. Jethro stand vollkommen reglos. Seine Augen beobachteten sie, sagten nichts, gaben nichts preis, begriffen jedoch ihre geheimsten Gedanken, das spürte sie.
Stille. Sie fühlte ihren eigenen Herzschlag langsam und regelmäßig, während die Sekunden verrannen. An diesem Nachmittag lag ein ganz eigener Zauber in der Luft.
Jane stand am Fenster und genoß die Sonne in vollen Zügen. Jethro bewegte sich als erster; sie wußte, daß es so sein mußte. Ganz leicht berührte sein Arm die Tür, daß sie langsam zufiel. Es wäre nicht nötig gewesen. Niemand sonst war im Haus, die hölzerne Klinke schnappte mit einem schwachen Geräusch ein. Er verriegelte die Tür nicht. Er blieb vollkommen ruhig, vollkommen gelassen an derselben Stelle stehen. Er würde sie nicht hindern, das wußte sie, sie brauchte nur zu gehen. Sie stand im Sonnenlicht am Fenster und rührte sich nicht. Geschah endlich das völlig Unmögliche – etwas, was so undenkbar war, daß sie sich niemals erlaubt hatte, über eine Idee nachzusinnen, die sie bereits in ihrem ersten Keim hätte ersticken müssen? War es möglich, daß sie mit dreißig Jahren überhaupt noch an so etwas denken durfte? Ganz vorsichtig, so wie man sich einem Vogel nähert, um ihn zu füttern, kam er auf sie zu.
Als sie sich umwandte und unsicher aufblickte, war es, als würden alle Flüsse im Tal zu strömen beginnen. Nie zuvor hatte sie so etwas erlebt. Er sprach kein Wort. So mußte es sein. Alles, was geschah, blieb in der großen Stille des Nachmittags, nur von schwachen Geräuschen unterbrochen, die ihr so fern schienen wie die Vogelschreie von den Hügelkämmen. Wie konnte er sie so gut kennen?
»Du kommst recht spät, meine Liebe«, beschwerte sich Onkel Stephen »Du reitest zu lang aus.«
»Nur heute nachmittag, Onkel«, antwortete sie. Als Jane in der vertrauten Umgebung des Hauses im Kathedralgelände in dem Sitzbad saß, das Lizzie für sie bereitet hatte, wußte sie etwas ganz sicher: Das Unmögliche war geschehen, aber es durfte nie wieder sein. Sie konnte Jethro absolut vertrauen. Sie glaubte nicht, daß der Junge, der oben die Schafe hütete, etwas bemerkt hatte. Weder die alte Frau noch der Knecht waren auf dem Hof gewesen.
Wenn auch nur das Geringste von dem, was sich an diesem Nachmittag abgespielt hatte, bis zum Kathedralgelände von Sarum dringen würde, wäre ihr guter Ruf natürlich für immer dahin. Alle Türen würden ihr verschlossen bleiben. Ihr Onkel Stephen als Familienoberhaupt würde sie mit Recht auffordern, die Gegend zu verlassen. Sie könnte niemals heiraten, und der Name Shockley wäre auf ewig entehrt. All dies wollte sie keinesfalls. Der Gedanke daran erfüllte sie mit Entsetzen. Sie schwor sich, von nun an vorsichtig zu sein. Drei Wochen lang blieb sie dem Hof fern, und als sie Wilson das nächstemal besuchte, hatte er die Situation offenbar richtig erfaßt. Er war genau wie immer, legte in Anwesenheit des Knechtes und seines Sohnes die Hand an seinen Hut, und sie konnte nichts in den Blicken der beiden entdecken, was darauf schließen ließ, daß sie irgend etwas ahnten. Als sie mit ihm einen Augenblick allein war, sagte sie nur: »Wir müssen es vergessen.«
Er nickte und schwieg dazu.
Aber als er später, wie sonst, seine Hände unter ihren Fuß legte, um ihr in den Sattel zu helfen, zitterte sie.
Der Rest des Jahres verging ruhig. Jane ritt nur noch alle zwei Wochen zum Hof und hielt sich nie lange dort auf. Das Dach wurde nicht repariert. Aber bei den Viehkäufen im Dezember schnitt Jethro wieder gut ab, und mit einigem Glück würden sich die neuen Hampshire-Schafe, wenn die Lämmer geboren wurden, weiter vermehren. Im Januar, als Schnee lag, ritt sie nur einmal hinüber, und im Februar hatte Stephen Shockley wieder einmal ein feierliches Téte-à-téte mit dem Tod, was Jane den ganzen Monat in der Stadt hielt. Trotzdem lag sie nachts oft wach, dachte an Jethro und gestand sich ein, daß sie sich nach ihm sehnte. Mehr als einmal war sie nahe daran, hinüberzureiten – einmal war sie sogar schon auf der Hochebene angekommen, als sie sich traurig entschloß umzukehren. In der ersten Märzwoche war Stephen Shockley soweit wiederhergestellt, und da
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