Sarum
als sei es das Natürlichste von der Welt, daß sie in einen Sturm geraten sei und die Nacht bei Zigeunern verbracht hätte. Daraufhin – darin war man sich allgemein einig – begann der lange, doch unwiderruflich endgültige bittere Abschied Stephen Shockleys von diesem Leben. Einen Monat später trag Mr. Porters Jane nochmals mit christlicher, um nicht zu sagen heroischer Geste die Ehe an – wenn er auch ihren Ruf nicht wiederherstellen konnte, so wollte er doch den Skandal zum Schweigen bringen.
Zu seiner Überraschung lehnte sie wiederum ab. Er kehrte in seine Villa zurück, schüttelte den Kopf und beruhigte sich mit dem Gedanken – was hatte er auch sonst machen sollen –, daß er wohl Glück gehabt hatte; Miss Shockley litt doch offenbar ein wenig an Sinnesverwirrung.
1889
Hätte ein Besucher an jenem warmen Sonntagmorgen die stille Stadt Salisbury betreten, er hätte es wahrscheinlich für undenkbar gehalten, daß irgend etwas diese behagliche Ruhe erschüttern könnte. Und doch befand sich der Ort im Zustand siedender Kontroverse zwischen – wie einige Jahrhunderte zuvor – einem mächtigen Bischof und der halben Stadt.
Wäre der Besucher in die noch größere Stille des Kathedralgeländes gekommen, so wäre ihm die rüstige sechzigjährige Dame in dem langen weißen Kleid, mit Sonnenschirm und eleganten Knöpfstiefeln, die eben in einen Landauer stieg, sicherlich als die Verkörperung der Distinktion erschienen, ebenso distinguiert wie der seriöse grauhaarige Herr, der ihr höflich beim Einsteigen half: Miss Shockley und der alte Mr. Porters brachen an diesem Augustmorgen zusammen nach Cranborne Chase auf.
Jane Shockley befand sich allerdings in einem Zustand verhaltener Erregung, denn morgen wollte sie in den Kampf gegen den Bischof ziehen.
Und am Tag darauf… Sie lächelte in sich hinein: tags darauf würde sie noch größeren Aufruhr stiften.
Seit dreißig Jahren hatte es ihretwegen keinen Skandal mehr gegeben. Seit dem Tod ihres Onkels Stephen lebte sie allein im Haus auf dem Kathedralgelände. Vor zehn Jahren war ihr Bruder Bernard nach England zurückgekehrt, aber er war an den Rand des New Forest in der Nähe von Christchurch gezogen. Nach Art der viktorianischen Damen, die auf dem Kathedralgelände von Salisbury lebten, hatte sie sich zu einer höchst eindrucksvollen Persönlichkeit entwickelt. Natürlich war die Nacht, die sie bei den Zigeunern verbracht hatte, nicht in Vergessenheit geraten. Aber die jüngeren Leute im Kathedralgelände glaubten die Geschichte nicht mehr.
Tatsächlich schuf sie im Lauf der Jahre ein so einschüchterndes Bild von sich selbst, daß man sie um ihre Meinung fragte und sie gewöhnlich ihren Kopf durchsetzte.
Der Landauer verließ das Kathedralgelände. Als er in die High Street einbog, lief ein kräftiger älterer Mann darauf zu und hielt den Kutscher an. Er blickte ins Innere und schnitt eine Grimasse. Mr. Porters und Mr. Mason betrachteten einander voller Abneigung – sie waren Kontrahenten in der großen Kontroverse. Mason wandte sich an Jane: »Ihr werdet uns doch morgen nicht vergessen, Miss Shockley? Ihr werdet doch kommen und sprechen?« Sie blickte ihn unbewegt an. Die alte Beziehung aus der Zeit, als sie sich um Jethro gekümmert hatte, war etwas abgekühlt: »Ja, Mr. Mason, wenn ich meinerseits auf Euch zählen kann.«
»Das könnt Ihr«, sagte er. Offenbar war ihm ihre Anwesenheit wichtig. Sie lächelte. »Fahrt weiter, Baynes«, befahl sie dem Kutscher. Als die Kutsche die Stadt verließ und den Hügel nach Harnham hinauffuhr, war Jane in gehobener Stimmung. Sie hatte Mason für ihre Sache gewonnen. Er konnte vielleicht nicht viel ausrichten, aber jeder war wichtig, der auf ihrer Seite stand. Sie blickte Porters an. Wie aufrecht er saß, kaum daß sein Rücken die Lehne berührte! Er erinnerte sie – welch grausamer Gedanke! – an einen aufgespießten Schmetterling. Sicher konnte sie auch ihn gewinnen und ihrer kleinen Sammlung einverleiben.
Sie fuhren auf den Hügel von Harnham. Als Jane auf die Stadt hinunterblickte, staunte sie, wie sie sich ausgebreitet hatte. Die neuen Vororte, auf die Mr. Porters so stolz war, erstreckten sich bereits halbwegs bis nach Alt-Sarum. Die Welt verwandelte sich. Der Kampf, der Salisbury erschütterte und sogar Fragen im Parlament aufwirbelte, betraf die Schulen der Stadt. Es gab nicht genügend. Es ging nun darum, wie die neuen Schulen beschaffen sein sollten und wer sie leiten sollte. Die großen
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