Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
roten Strahlen der Abendsonne fingen sich in ihren Gewändern. An diesem höchsten Festtag trug der Hohepriester ein prachtvolles, weiß-rotes Gewand, auf dem kostbare Steine funkelten. Sein schmales Gesicht war weiß bemalt. Auf dem Kopf trug er einen hohen Bronzeschmuck, gekrönt von einer goldenen Scheibe, die im Sonnenlicht aufleuchtete. In der Hand hielt er den langen Stab mit der strahlenden Spitze in Form eines Schwans. Dluc überragte alle Anwesenden um Haupteslänge.
    Die Sonne ging unter, die Dämmerung senkte sich herab, und die Menge bereitete sich auf die stille Wache vor, die während dieser kürzesten Nacht im Jahr gehalten wurde. Langsam ging der volle Mond auf. Nooma, der Steinmetz, sah unverwandt hinüber zum großen Henge, seinem Lebenswerk. Der vollkommene graue Steinkreis im Herzen des Henge war in weißes Mondlicht getaucht. Zwischen den Steinen sah Nooma das innerste Heiligtum: den Halbkreis der Trilithen und den furchteinflößenden Altarstein. Er überlegte, ob irgend etwas sonst in seinem Leben von Bedeutung war. Die Priester hatten wirklich eine schreckliche Macht, dachte er, legte still einen Arm um seinen Sohn und zog Pia an sich – mit dem Wissen, daß beide Kinder im Schatten des Henge aufwachsen mußten. Die Nacht verging. Bei Anbruch des ersten kaum wahrnehmbaren Scheins am östlichen Horizont stimmten die Priester einen langsamen, eintönigen Gesang an; dann schritten sie in feierlichem Gang die fünfhundert Meter der geheiligten Straße zum Steinkreis. Im schwachen Dämmerlicht versuchte Nooma vergebens, die Opfer zu erkennen. Er drückte die Kinder fester an sich. »Eure Mutter hat es gut«, sagte er. »Sie wird den Göttern als besondere Gabe dargebracht.« Pias große Augen starrten ihn verständnislos an; aber Noo-ma-ti ahnte, was geschah, und begann zu schluchzen.
    Im Osten wurde der Himmel heller. Inmitten des Henge stand völlig reglos die hagere Gestalt Dlucs, des Hohenpriesters, am Altarstein. Gerade als die Prozession die Kultstraße betrat, brachte man ihm die Nachricht von Kronas Tod. Bald würde er seinen Ehrenplatz in einem weißen Hügelgrab haben, wo sein Geist Frieden fände. Der Hohepriester war beruhigt, daß der Herrscher erlöst worden war. Während der neue Henge auf das Erscheinen des Sonnengottes wartete, erkannte der Hohepriester endlich die Tragweite der Ereignisse, die seit dem Tod von Kronas Söhnen stattgefunden hatten. Wie begannen die heiligen Überlieferungen der Priester?
    Die Sonne regiert die Himmel.
Die Sonne gibt, die Sonne nimmt.
Nichts, was ist,
Ist so aus Zufall.
    Das war die Bedeutung des neuen Henge, der Steine, der von Krona geopferten neunzehn Mädchen, der neunzehn Jahre der heiligen Mondschwingung und der genauen Opposition von Sonne und Mond, deren Zeuge er jetzt wurde. Deshalb war der Henge vollkommen, unzerstörbar zusammengefügt in einem vollkommenen Kreis. Deshalb mußte ein neuer Erbe aus dem Leid Kronas und seines Volkes hervorgehen. Wie hatte er jemals zweifeln können!
    Nichts geschieht aus Zufall. Die Absichten der Götter mögen verborgen sein, aber sie sind unfehlbar und furchtbar zugleich in ihrer Ausgewogenheit und Ordnung, so unverrückbar wie die Sterne. Dluc hatte dies nun erfaßt: Für die Menschen auf Erden gibt es nur einen Weg – Gehorsam. Dies war die Botschaft des Fluches, der über Sarum verhängt worden war: Tod des Herrschers und seiner Söhne. Dies war die Botschaft der Opfer.
    Die Sonne war fast aufgegangen. In der zunehmenden Helligkeit sah man, daß sich der Vollmond auf einen Punkt über dem westlichen Horizont in Richtung der Kultstraße zubewegt hatte. Der Himmel färbte sich nun leuchtendblau, und der östliche Horizont schimmerte hell, zuerst zartsilbern, dann karmesinrot und endlich safrangelb. Der Gesang der Priester schwoll an. Die Menge wartete erregt. Das Gelb wurde zu Feuerrot, ging dann in Türkis und Azurblau über; der Horizont schien zu beben. Gegenüber stand der Mond dicht über den Hügelkämmen.
    Da hob sich der Sonnengott aus dem Horizont empor und sandte seine ersten leuchtenden Strahlen wie Pfeile die geheiligte Straße entlang, mitten ins Herz des Henge. In diesem Augenblick war der Gesang zu Ende, und die nun folgende schreckliche Stille wurde nur durch ein schwaches Geräusch unterbrochen, als das erste Opfer auf den Altarstein fiel.
    Dluc blickte ins Antlitz der Sonne. Langsam hob er Kronas erstgeborene Tochter mit beiden Händen hoch über seinen Kopf, zeigte sie dem Gott und

Weitere Kostenlose Bücher