Sarum
Verteidiger von Sarum eine noch wirksamere Waffe – glatte, runde Kieselsteine, die in kleinen Abständen auf der Brustwehr aufgehäuft waren. Diese Steine paßten die Männer und auch Frauen in lange Schleudern ein. Die Schleudern warfen die Steine mit solcher Kraft, daß sie einen Mann bis zu einer Entfernung von hundert Metern erledigen konnten.
Die Steinschleuderer waren derart flink, daß die Kiesel wie ein plötzlicher Hagelsturm wirkten. Während die Bewohner von Sarum für den Kampf und vielleicht für den Tod bereit waren, ahnten sie nichts von dem Plan, den ihr junger Herrscher schon seit langem mit sich herumtrug. Dieser Plan nahm all seine Gedanken in Anspruch. »Ich werde Sarum zu einer neuen Größe verhelfen. Meine Familie wird wieder mächtige Könige hervorbringen – wie in alten Zeiten«, murmelte er.
Sein dynastischer Stolz war wohlbegründet: Keine Familie auf der ganzen Insel hatte ein älteres Anrecht auf ihr Gebiet. War nicht vor fünfhundert Jahren sein keltischer Ahnherr, Coolin der Krieger, mit seinem Eisenschwert und seinen sechs treuen Begleitern auf dem berühmten Gratweg aus dem Norden herangeritten? Hatten sie nicht am Eingang des Heiligtums von Stonehenge haltgemacht und dort Alana, die letzte Tochter des Hauses von Krona, gefunden, dessen edle Ahnenreihe bis in undenkliche Zeiten zurückreichte? So kühn die Legende auch klang, sie entsprach der Wahrheit, und die Abkömmlinge aus der Verbindung zwischen dem Keltenfürsten und der letzten Erbin von Sarum hatten jahrhundertelang über eine gemischte Bevölkerung aus Kelten und den Ureinwohnern der Insel geherrscht.
Aber Macht besaßen sie nicht immer. In den dazwischenliegenden Jahrhunderten hatte Sarum ein wechselhaftes Schicksal erlebt; unter Tosutigus’ Vater war es völlig unbedeutend, eine kleine Siedlung, die die Geschichte links liegenließ und die eine gefährdete Unabhängigkeit inmitten mächtiger Stämme bewahrte.
Tosutigus und sein Vater hatten sich jedoch noch vor einem weiteren Problem gesehen: Südwestlich von ihrer kleinen Festung siedelte einer der kriegerischsten Stämme, auf die die Römer je treffen sollten: die mächtigen Durotrigen. »Die Durotrigen im Südwesten werden hart kämpfen. Sie sind stolz und unabhängig«, warnten die Spione Claudius. »Sie haben noch nie römische Waffen gesehen«, erklärten sie, »und sie halten sich für unbesiegbar.«
Die stolzen Durotrigen vertrauten auf ihre Hügelfestungen. Im Vergleich dazu war die Düne von Sarum mit ihrer einfachen Ringmauer unbedeutend. Die großen, bis heute erhaltenen Erdkastelle von Maiden Castle, Badbury Rings, Hod Hill und viele andere bedeckten riesige Flächen Landes. Sie hatten bis zu sieben Mauerringe und eine Vielzahl bewehrter Tore, wo die Angreifer in die Falle gelockt werden konnten.
Die Durotrigen beherrschten ein ausgedehntes Gebiet im Südwesten der Insel, einschließlich eines flachen Hafens, wo sie den Hügel befestigt hatten. Die Herrscherfamilie in Sarum löste das Problem – wie so manches Mal in ihrer langen Geschichte – durch kluge Unterwerfung.
»Du mußt den Durotrigen immer ein ergebener Freund sein«, hatte Tosutigus’ Vater gemahnt. »Sie beherrschen den Hafen und damit den Fluß.« Getreu dem Brauch der keltischen Stämme hatte er einen Eid auf sein Schwert geschworen, in jedem Fall für den König der Durotrigen zu kämpfen. Dadurch war er dessen Vasall geworden und hatte Schutz für seine kleine Dynastie bekommen: Sarum war unbehelligt geblieben. Aber der Vater war vor einem Jahr gestorben und hatte seinem unerfahrenen Sohn einen stolzen Namen und ein gefährdetes Erbe hinterlassen. Tosutigus mußte der Strategie seines Vaters wohl oder übel folgen. Zwei Monate zuvor hatte er vor dem mächtigen alten Mann auf dem Hirschfell – dem König der Durotrigen – gekniet und geschworen: »Herr, wenn die Römer kommen, so werde ich die Düne in Sarum für dich bis zum letzten Mann halten.«
Hätte der König nur im entferntesten die wirklichen Absichten des Jünglings geahnt, hätte er entweder laut gelacht oder ihn auf der Stelle getötet.
Als Tosutigus an jenem Frühlingsmorgen nach Süden blickte und seine Pläne überdachte, wurde er dabei durch das Nahen von drei Männern unterbrochen, denen er sich mit höflichem Gruß zuwandte. Die beiden Brüder Numex und Balba waren zwar keine Zwillinge, aber einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Beide waren klein, krummbeinig, hatten runde Köpfe, rote Gesichter,
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