Sascha - Das Ende der Unschuld
würde angerührt, als er in die Augen des ihm fremden jungen Mannes sah. Er war auf eine merkwürdige Weise beeindruckt von dem elegischen Blick dieser schwarzen Augen und dem melancholischen Ausdruck auf dem makellosen Gesicht. Es war ganz und gar nicht seine Art, auf Tuchfühlung mit Fremden zu gehen. Aber etwas, er wusste nicht, was es war, zwang ihn dazu, Sascha zu berühren. Einen Moment nur fühlte er sich ihm auf unerklärliche Weise nahe. Dann war es Sascha, der vor diesem für Claus augenscheinlichen Mysterium weglief und einen ziemlich irritierten Mittvierziger zurückließ, der sich in diesem Moment wie ein sitzen gelassener Sechzehnjähriger fühlte.
Als er nach Hause kam, hatte er vor dem Kamin in der Halle sitzen und noch einen Drink zu sich nehmen wollen. Er saß dann auch unter dem Ölgemälde, das seine Eltern als Hochzeitspaar zeigte, aber er vergaß, sich einen Cognac zu nehmen. Er fröstelte trotz der draußen noch angenehmen Temperaturen, saß einfach nur da und dachte an die kurze Begegnung im Regen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so fasziniert von einem anderen Menschen gewesen zu sein. Zärtlich dachte er an Sascha, von dem er nicht einmal den Namen kannte. Er hätte gern mehr von ihm gewusst, ihn bei sich gehabt und getröstet.
Auch Claus versank in unrealistisch gefühlvollen Wachträumen. Doch dann, fast übergangslos schien da etwas anderes in seinem Denken zu sein. Er glaubte, die Stimme seiner Mutter zu hören, die ihm vorwarf, etwas Unmoralisches vorzuhaben. Er wehrte sich dagegen, versuchte dem Ölgemälde über sich und damit der Stimme in seinem Inneren klarzumachen, dass er kein sexuelles Interesse an dem Jungen hatte.
Aber die Stimme in seinem Kopf ließ sich nicht überzeugen. Und so ging er und holte die Bibel, um eine bestimmte Stelle immer und immer wieder zu lesen. Es war im Buch Mose, wo geschrieben stand: Kein Mann darf mit einem anderen Mann verkehren, denn das verabscheue ich. Gehorcht meinen Anweisungen und richtet euch nicht nach den abscheu lichen Sitten der Völker. Verunreinigt euch nicht durch ein solches Verhalten, denn ich bin der Herr, euer Gott.
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Sascha saß den halben Abend an der Kirche und wollte vor sich selbst nicht zugeben, dass er tatsächlich die ganze Zeit auf den Mann wartete, den er bereits gestern hier getroffen hatte. Er fühlte sich jetzt nicht mehr nur einsam, er glaubte plötzlich eine Sehnsucht in sich zu tragen, die ihm weh tat, die er aber nicht loslassen wollte. Es war, als ob er um Haaresbreite das gefunden hätte, was er sein Leben lang gesucht hatte, ohne dabei erklären zu können, was genau es war.
Das Gefühl, nur knapp etwas verfehlt zu haben, das einen wirklichen Sinn in seine Existenz hätte bringen können, machte ihn fast verrückt. Er verstand es nicht, versuchte sich einzureden, dass sein Gefühlschaos nicht an einem Fremden liegen konnte, den er lediglich ein paar Minuten gesehen hatte. Aber etwas in ihm wollte an die Liebe auf den ersten Blick glauben, schließlich war er sicher, sie so zu empfinden. Jetzt war er plötzlich wieder der Zwölfjährige auf seiner Suche nach Liebe und Anerkennung, der mit Macht alle negativen Erfahrungen von sich schob.
Es war zuviel geworden, die letzte all seiner Niederlagen war Stefanie gewesen. Um jetzt noch durchzuhalten brauchte er Optimismus. Das öffnete sein Innerstes für irreale und versponnene Wünsche, auf die er in dem ihm noch fremden Claus die Antwort gefunden zu haben glaubte.
Sascha war so in seine Gedanken verstrickt, dass er erst aufstand, als er die Polizeistreife bemerkte, die ihn zur Kenntnis genommen hatte und sich interessiert zeigte. Er raffte sich auf und gab das Geld, das er für den Einkauf abgehoben hatte, für eine Taxifahrt nach Hause aus.
Er war in dieser Nacht so unruhig, dass er ständig in seiner Wohnung umherlief. Er trank Bier auf seinen seit mehreren Tagen beinahe nüchternen Magen, gleich anschließend wurde ihm übel. Er ging ins Bett, stand jedoch fünf Minuten später wieder auf, um im Wohnzimmer fernzusehen. Der Film langweilte ihn, deshalb drehte er die Anlage auf und tanzte total übersteigert zu der Musik von Bon Jovi, bis die Nachbarn von unten gegen die Decke klopften. Dann ging er völlig erschöpft duschen. Schließlich schaute er im Wohnzimmer in eine Zeitschrift, nahm sie mit ins Bett und las dort weiter. Als auch das ihn anödete, warf er das Magazin in die Ecke und ging zurück ins Wohnzimmer, um sich ein Musikvideo
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