Sascha - Das Ende der Unschuld
mehr so utopisch war wie noch vor ein paar Jahren. Er erfuhr, dass der Chefarzt ihn sprechen wolle, heute jedoch auf einem Kongress weilte. Deshalb bat man Sascha, am nächsten Tag noch einmal zu kommen, auf gar keinen Fall jedoch zu Claus hineinzugehen.
Ganz in Gedanken setzte Sascha sich in einen Bus. Seiner geistigen Abwesenheit hatte er es wohl zu verdanken, dass er in Marienburg statt in Wesseling landete. Auf den zweiten Blick fand er diese Tatsache gar nicht mehr so falsch. Er beschloss, zu bleiben und nahm den Weg durch den Keller.
Jetzt hatte er die Muße, sich genauer im Haus umzuschauen. Dabei fiel ihm wieder die Bibel in die Hand. Er schlug sie auf und sah, dass Claus einige Stellen gekennzeichnet hatte. Unter anderem fand er den gelb markierten Absatz im dritten Buch Mose Kapitel 18, Vers 22: Und du sollst nicht bei einem Mann ebenso liegen wie du bei einer Frau liegst. Es ist eine Abscheulichkeit.
Sascha schüttelte den Kopf. Natürlich hatte es Zeiten gegeben, in denen auch er lieber ein normaler Mann gewesen wäre. Aber das hatte faktische und keine religiösen Gründe.
Je tiefer er in den für ihn teilweise völlig verdrehten und unverständlichen Text einstieg, desto mehr glaubte er von dem zu begreifen, was er mit Claus erlebt hatte. Die kenntlich gemachten Passagen machten ihm den Konflikt seines Freundes immer deutlicher.
Er fand den Gürtel, an dessen Schnalle sich bei näherem Hinsehen noch Blut befand und langsam dämmerte ihm, wie die Wunden entstanden waren. Er schämte sich, weil er mit seinen Mutmaßungen offensichtlich derart falsch gelegen hatte.
Er wollte früh am nächsten Morgen ins Krankenhaus und hören, was der Professor zu sagen hatte. Deshalb entschloss er sich dazu, auch in dieser Nacht in Marienburg zu bleiben und wunderte sich, dass niemand kam und ihn daran hinderte.
✵
Gegen neun Uhr, er war gerade aufgestanden und machte Kaffee, als sei dies in diesem fremden Haus das Selbstverständlichste der Welt, klingelte das Telefon. Er ging in die Halle und hörte vom Anrufbeantworter die Stimme von Claus’ Sekretärin. Es war eher ein Reflex, dass er abhob.
In kurzen Worten erklärte er, dass Claus einen Unfall hatte und jetzt in der Klinik lag. Dabei verschwieg er dessen wirklichen Zustand und reduzierte die Krankheit auf ein paar Knochenbrüche. Beinahe ging es zu glatt, als Claus’ Mitarbeiterin völlig bedenkenlos annahm, Sascha befinde sich zu Recht in Marienburg. Sie setzte voraus, dass er in Kontakt zu ihrem Chef stand und bat darum, Sascha möge im Betrieb vorbeikommen und einige Unterlagen mitnehmen, um sie von Claus absegnen zu lassen.
Als Sascha auflegte, war er überrascht darüber, wie komplikationslos er von den anderen in Claus’ Leben integriert wurde. Er fühlte sich in die Verantwortung genommen und wollte dieser, wie es seine Art war, auf jeden Fall gerecht werden.
Wie so oft in seinem Leben stürzte er sich Hals über Kopf in eine neue Situation und schien in ihr alles zu finden, was er je gesucht hatte. Bevor er diesmal das Haus verließ, suchte er den Hausschlüssel, denn diesmal stand es für ihn fest, dass er zurückkommen würde und dabei wollte er nicht wieder durch das Kellerfenster klettern.
Bevor er in die Klinik fuhr, machte er einen Umweg in die Pipinstraße und bekam anstandslos einige Disketten und eine Mappe mit Ausdrucken für verschiedene Präsentationen.
Noch wusste er nicht genau, was er damit anstellen sollte, aber er nahm sie mit und kam eine Viertelstunde später in der Klinik an. Dort musste er nicht lange warten, bis er zum Chefarzt vorgelassen wurde. Da sich mittlerweile herausgestellt hatte, dass Claus Privatpatient und somit bevorzugt zu behandeln war, wurde alles getan, um diesem seinem Status gerecht zu werden. Dazu gehörte die Verlegung in ein anderes, weitaus geräumigeres Einzelzimmer und die sofortige Anhörung seines augenscheinlichen Lebensgefährten durch den Professor höchstpersönlich.
Er saß dem ungefähr sechzigjährigen, grauhaarigen Mann nervös gegenüber und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Würde der Arzt ihn etwas fragen, das er nicht beantworten konnte und ihn dadurch unglaubwürdig aussehen lassen? Musste er aus dem Stegreif lügen?
Es sollte sich herausstellen, dass Saschas Befürchtungen unbegründet waren. Fast automatisch rutschte er auch hier in seine neue Rolle hinein. Professor Albrecht nahm die angebliche Lebensgemeinschaft als Tatsache hin, ohne sie auch nur eine Minute zu
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