Sascha - Das Ende der Unschuld
bezweifeln. Dann kam er übergangslos zur Sache:
„Wie Sie sicher bereits von der Oberschwester erfahren haben, sind die sekundären Verletzungen des Treppensturzes bereits behandelt worden und werden ausheilen. Es handelt sich dabei um zwei Rippenbrüche, einen Armbruch und ein paar Hautabschürfungen. Was mir jedoch in erster Linie Sorgen macht, ist der schlechte, körperliche Zustand von Herrn David und die alten und neuen Prellungen und offenen Wunden, die ohne Zweifel durch die vorsätzliche Einwirkung durch einen einer Peitsche ähnlichen Gegenstand entstanden sind. Außerdem geben mir seine Reaktionen Anlass zur Besorgnis. Er scheint nicht er selbst zu sein, drückt sich partiell nur in Bibelzitaten aus. Können Sie mir dazu etwas sagen?“
Die Geschichte, die Sascha daraufhin erzählte, setzte sich aus der Wahrheit und seinen seit dem Vorabend konkretisierten Vermutungen zusammen. Die Stellen, für die er beim besten Willen keine Erklärung hatte, füllte er kurzerhand mit außerordentlich kreativen Lügen auf.
Er berichtete, dass er mit Claus seit mehr als einem Jahr eine feste Beziehung habe, die bis vor ein paar Wochen sehr gut lief. Er gab außerdem an, in Claus’ Herrenhaus zu wohnen und daneben noch ein eigenes Appartement zu haben. In letzter Zeit hätte er dorthin öfter ausweichen müssen, es seien vermehrt Probleme aufgetreten, denn Claus habe sich immer öfter zurückgezogen. Schließlich habe er, Sascha, bemerkt, dass sein Freund sich selbst züchtigte, weil er aus unerfindlichen Gründen unversehens nicht mehr mit seiner Homosexualität umgehen konnte. Sascha vergaß auch nicht, die absonderlich intensive Beziehung zu der verstorbenen Mutter und Claus’ Religiosität zu erwähnen, die er in den letzten beiden Tagen zu erkennen glaubte. Es war eher Zufall, dass er hierbei genau richtig lag.
Der Professor konnte sich nun ein Bild machen. Er schlussfolgerte, dass Claus ein schweres, psychologisches Problem hatte. Hierbei glaubte er an eine Zwangsneurose, die einem Schuldkomplex aufgrund der jahrzehntelangen, konsequent autoritären Manipulation durch die Mutter entstammte. Man würde Claus auf die Psychiatrische verlegen, ihn dort mit Psychopharmaka ruhig stellen, bis seine körperlichen Verletzungen ausgeheilt waren und dann mit einer Psychotherapie beginnen. Die stationäre Behandlung konnte bis zu einem halben Jahr dauern. Der Arzt setzte hierbei voraus, dass Claus’ Krankheitsbild bei näherer Untersuchung keine bereits ausgereifte Psychose zeigte, die in der Regel eine weitaus längere und schwierigere Behandlung erforderte.
Sascha nahm sich vor, jetzt alles in seiner Macht stehende zu tun, um Claus, wenn auch nur aus der Ferne, beizustehen. Er begann, selbst an seine Version, dass vor dieser Entwicklung alles in bester Ordnung war, zu glauben.
Er fuhr zurück nach Marienburg und durchsuchte dort den Kühlschrank nach etwas Essbarem. Bisher hatte er sich lediglich an Claus’ Brotvorräte und seinen Kaffee gehalten. Jetzt nahm er zwei Koteletts aus der Tiefkühlung und taute sie in der Mikrowelle auf. Er aß, trank dazu Mineralwasser und begab sich anschießend ins Büro. Dort schaute er sich die ausgedruckten Entwürfe der Präsentationen an. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Ihm gefielen die Sachen nicht, aber er schrieb dies seinem mangelnden Sachverstand zu. Unschlüssig drehte er die Disketten zwischen den Fingern hin und her und schaute zum Computer. Ob er es wagen sollte? Der Reiz des Gerätes war eindeutig.
Er hatte keine Ahnung von diesen Elektronengehirnen. Niemals in seinem Leben hatte er eins aus der Nähe gesehen, geschweige denn damit gearbeitet. Jetzt musste sogar den Knopf zum Einschalten suchen. Es gelang ihm an diesem Tag nicht, die Diskette aufzurufen. Trotzdem fand er die ersten Schritte durch stetiges Probieren und wunderte sich, wie logisch die Maschine arbeitete.
Gleich am nächsten Morgen fuhr er nach Wesseling. Er wollte nur ein paar Sachen holen und fand als Erstes die Kündigung seiner Wohnung vor. Er hatte die dritte fällige Miete nicht gezahlt und der Vermieter drohte, gerichtlich gegen ihn vorzugehen, wenn er nicht umgehend auszog. Außerdem wollte er vom Rückbehaltungsrecht für die Möbel Gebrauch machen, bis Sascha die ihm zustehende Summe bezahlt hatte.
Es wunderte Sascha nicht, dass er diese Entwicklung eher gelassen zur Kenntnis nahm. Es war, als füge sich alles wie von selbst. Dann würde er eben ganz nach Marienburg ziehen.
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