Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
Interessanteres als den kranken Vater. Auf der Straße liegende Leichen. Den Kampf um Brot und Bohnen, Bettler, die das Essen auskratzten, das von den Franziskanern ausgegeben wurde. Da wurden Krücken, Hände, Steine eingesetzt. Von den Fenstern der Schule aus konnte man alles sehen, aber der Lehrer passte auf, dass wir in unsere Hefte schauten.
Francisco spricht
Ich kann mich an den Moment erinnern: Ich stehe an der Staffelei und male die weiße Spitze auf dem schwarzen Jäckchen fertig, ich blicke in diese wie Kohlen glühenden Augen und sage mir: Es hat überlebt. Das Geschlecht der Goyas ist stärker geworden, hat eine weitere Generation hervorgebracht – fast alle Zweige meines Baums sind abgestorben, doch der einzige, der übriggeblieben ist, irgendwie krumm und nicht so ganz geraten, hat eine wunderschöne Knospe getrieben, so schön, dass ich mich manchmal frage, ob nicht ich – im Suff – diesen tapferen Jungen zustande gebracht habe. Wie vornehm ist er, wieviel natürliche Eleganz steckt in ihm. Ja, mein Vater, der den Hauptaltar der Kathedrale in Saragossa vergoldet hat, hat vielleicht manchmal die Ochsen aufs Feld geführt und wie Cincinnatus gepflügt, wenn es sein musste, aber er war doch ein Adliger reinsten Blutes, mit Wurzeln tief in der harten baskischen Erde, und auch Mutter stammte von Hidalgos ab, ein Dahergelaufener bin ich nicht. In Wahrheit sind wir nicht einfach Goyas, sondern de Goyas, das ist von Archivaren schon lange bestätigt worden; das Wühlen in alten Papieren hat zwar ein bisschen gekostet, aber wozu hat man Geld – am Glanz und Ruhm des Geschlechts sollte man nicht sparen.
Javier spricht
Er brachte irgendwelche Dokumente, Auszüge, graphische Darstellungen, ich war fast eingenickt über meiner Schokolade. Wie durch einen Schleier erinnerte ich mich, dass er mir das alles schon gezeigt hatte, als ich noch nicht über den Tischrand schauen konnte. Ich warf einen Blick darauf und schrieb ihm: »Erinnerst du dich an das Bild mit dem Esel aus den Caprichos?« – »Welches?« Er tat so, als verstünde er nicht. »Mit Eseln gab es viele …« – »Der Esel im Rock, in den Vorderhufen ein Buch, in dem seine Vorfahren abgebildet sind, lauter Esel. Bis zu seinem Urahn , so ähnlich lautete der Titel.« – »Einen Scheiß weißt du«, erwiderte er und sammelte die Papiere ein. »Einen Scheiß weißt du. Ich verstehe nicht, wie ein Sohn von mir so aus der Art schlagen konnte.«
Mariano spricht
Opa sagt, ich sei Mariano de Goya und solle mit erhobenem Haupt gehen. Er sagt, selbst wenn man den Kopf nach unten beugt, um eine Maus oder Eidechse anzuschauen, könne man ihn die ganze Zeit erhoben haben, innerlich.
Javier spricht
Wenn ich hätte aufstehen müssen und mich anziehen, damit Mariano und Gumersinda nicht verhungern, wie es so vielen Menschen in Madrid und ganz Spanien erging, die jeden Morgen auf den Straßen, in den Dielen oder Betten aufgesammelt, auf Pritschenwagen geladen und in Massengräber geworfen wurden – dann wäre ich aufgestanden, hätte Hemd und Hose, Schuhe und Rock angezogen und wäre zur Arbeit gegangen. Aber das musste ich nicht. Auch wenn ich nur faul herumlag – ich hatte aus dem Erbe der Herzogin, durch die königliche Rente für die nicht verkauften Caprichos samt Platten und durch die monatlichen »Zulagen« von Vater so viel, dass wir fast auf dem gleichen Niveau wie vor dem Krieg leben konnten. Selbst in Zeiten größten Hungers gibt es immer Leute, die ihr letztes Stück Brot, eine Rübe oder einen Sack Erbsen verkaufen. Wir konnten es uns sogar leisten, als Hilfe für Marianitos Erziehung eine Cousine von Gumersinda einzustellen, die ihr Mann, Isidro Weiss, ein dicker jüdischer Juwelier, wegen unmoralischen Verhaltens weggeschickt hatte. Eines Tages kam mir der Gedanke, dass mich das vielleicht geheilt hätte: So eine packen, von der man weiß, dass sie nicht gerade tugendhaft ist, denn für ihre Unschuld hat dieser Juwelier sie nicht rausgeworfen – an die Wand pressen, den Rock hochreißen … Ich stellte es mir genau vor, und dann lag ich im Bett und überlegte, was in mich gefahren war. Derselbe böse Geist, der in dem Alten steckte? Ich sah diese Frau fast täglich durchs Haus gehen, einen Apfel essend, mit einem kleinen Jungen auf dem Arm; der ältere war beim Vater geblieben, der jüngere wahrscheinlich in einem fremden Bett gezeugt worden; allein beim Gedanken, dass ich sie anrühren könnte, wurde mir schlecht. Eine arme,
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