Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
machen, aber dafür war es einige Jahre zu spät; daher schaute ich immer bei Großvater vorbei, wenn ich von der Stadt kam – wie lange kann man schließlich bei einem Kranken sitzen, wo man von morgens bis abends auf Zehenspitzen gehen und flüstern muss, und das unbedingt mit Leidensmiene; ich muss zugeben, zwei Nächte habe ich mir anderweitig um die Ohren geschlagen, aber ich denke nicht, dass Großvater etwas dagegen gehabt hätte – schließlich war ich an dem Abend da, als er die Hand wieder bewegen und man ein paar Mal verstehen konnte, was er sagte; ich stand neben Mutter, die ihm gerade eine kalte Kompresse auf die Stirn legte, und hörte ganz genau: »Ich möchte ein Vermächtnis für Leocadia und Rosario machen«, und Mutter sagte mit der beruhigenden Stimme, mit der sie seit dem ersten Tag der Krankheit mit ihm sprach, mit der Engelsstimme, der zuckersüßen Stimme der Mengsschen Alegorie: »Das habt Ihr schon gemacht, Vater, ruhig, ganz ruhig, pst.« Er schlug die Augen auf, sah sie verwirrt an, überrascht, als könne er nicht glauben, dass er sich so irrte, und sie wiederholte: »Ja, es ist alles gut, jaaaa …« Erst da schloss er die Lider und fiel in einen leichten, nervösen Schlaf. »Ihr habt Glück, Mutter, dass Doña Leocadia gerade nicht da ist …«, brummte ich, und sie sah mich nur mit böse zusammengekniffenen Augen an und wandte sich wieder zum Bett.
Als er starb, war ich nicht zu Hause; ich kam gerade aus der Stadt zurück, spielt jetzt keine Rolle woher, es war kurz nach zwei, und ich begriff schon an der Schwelle, dass es vorbei war, da hing etwas in der Luft. Doña Leocadia – seltsam, dass gerade sie es war, wenn ich jetzt daran denke – kam zuerst auf mich zu und sagte, die Nase hochziehend: »Er ist einfach eingeschlafen … Sogar der Doktor war erstaunt, wieviel … wieviel Kraft er hatte … Sie sagen, dass er nicht gelitten hat« – hier versagte ihr die Stimme –, »aber das stimmt nicht … das stimmt nicht.« Und sie ging, irgendwie seltsam, als ob sie stolperte auf dem glatten Fußboden.
XXII
Javier spricht
Der Brief kam in der ersten Aprilwoche, vielleicht auch Anfang der zweiten – aber ich spürte, dass er noch lebte. Seltsame Tage. Ich lief durch Madrid im Vorgefühl einer großen Freiheit, die auf mich zukommen würde, auf mächtigen Flügeln über die Pyrenäen; wie einst die Afrancesados auf Napoleon und seine Konstitution gewartet hatten, später der Pöbel auf El Deseado, den ersehnten, aus der Verbannung zurückkehrenden König, bevor er sich als Kretin und Despot erwies, und noch später sein schrumpfendes Häufchen von Anhängern auf die Hunderttausend Söhne des Heiligen Ludwig (kann man sich eine dümmere Bezeichnung für die französischen Soldaten vorstellen?), so blickte ich während meiner Spaziergänge Richtung Pyrenäen – so ungefähr jedenfalls – und wollte einen Lufthauch auf dem Gesicht spüren, der die Ahnung der Befreiung mit sich brächte. Indessen erledigte ich einige notwendige Angelegenheiten: die Abschrift der Geburtsurkunde, deren Bestätigung durch den königlichen Notar, die Erlaubnis des französischen Generalkonsuls. Ich nahm nicht einmal die Kutsche, sondern zog es vor, zu Fuß zu gehen; es war Frühling, alles klebte geradezu von pulsierenden Säften, und ich wurde im dreiundvierzigsten Lebensjahr zum zweiten Mal geboren. Wozu – woher sollte ich das wissen? Wer weiß schon bei seiner Geburt, wozu er geboren wird?
Und dann spürte ich einfach, dass er tot war. Dass ich ihn nicht mehr lebendig antreffen würde, dass ich ihm nicht würde in die Augen sehen und diesen verächtlichen Blick würde ertragen müssen, diese verbitterten Vorwürfe, diesen muffigen Groll. Endlich konnte ich fahren. Ich wusste, dass Gumersinda dort war und unsere und Marianitos Interessen im Blick hatte. Kurz nach dem Tod drängte sich eine große Menschenmenge durchs Haus. Gaulon, der Lithograph, der mir übrigens später beim Testament half, rief einen gewissen de Torre, er solle den alten Dachs auf dem Sterbebett zeichnen; ich habe die Zeichnung gesehen, nichts Besonderes, aber sie werden sicher ein wenig an den Kopien verdienen. Ein Kaufmann, den er einmal gemalt hat, bezahlte das Begräbnis, Molina ließ das Ableben im Bürgermeisteramt registrieren, er irrte sich übrigens mit dem Alter, aber was soll’s. Gumersinda hat den alten Auerhahn neben ihrem Vater, auf dem Friedhof der Kartäuser beerdigt; warum auch nicht – ich denke nicht, dass
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