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Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Titel: Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacek Dehnel
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Welt und ihre Vielfalt; Gerüche – diejenigen, die dicht über der Erde schweben, und diejenigen, die vom Wind getragen werden. Der Geruch des Ledergürtels, der stechende Geruch von Pulver und dieser feine Streifen – das ist eine abgeschossene Ente, die aus der Höhe herabfällt und mit trockenem Aufprall im dürftigen Gestrüpp landet; ein ganzes Register von Aromen, die von der Stadt kommen: Rinnsteine, parfümierte Hälse, Kohlköpfe, die an den Ständen in der Sonne faulen, reife Melonen, die fast platzen vor lauter Saft; das Blut von Massakern, Übelkeit erregend, wild, in breitem Strom in den Randstein fließend und dann weiter, auf die Straße; und das, was nah ist: ein Maulwurf, getrocknete Kräuter, die Stiefel des Herrn, der wieder die Flinte hebt und auf die nächste Ente zielt; die Welt und ihre Vielfalt – und doch scheint sie ohne den Herrn ganz ausdruckslos, uninteressant wie eine platte Wand. Die Nase, die in der Lage war, eine ganze Karte der Umgebung aufzuzeichnen, mit festen Punkten – der verpissten Mauer des Wirtshauses, dem Weihrauch ausdünstenden Kirchentor, der Gerberei am Bach – und mit beweglichen: mit Hunden, Katzen, mit Kühen, über die glutweiße Straße getrieben, mit Menschen und ihren mannigfaltigen Gerüchen – die Nase ist jetzt ohnmächtig; man sagt bisweilen, die Verzweiflung raube einem die Sinne – wenn sie sie dem Menschen raubt, warum sollte sie sie nicht auch dem Hund rauben?
    Zuerst sehnte er sich nach dem Guten: dem warmen Lager am Kamin, den Fleischbrocken, den seltenen Zärtlichkeiten, wenn Herrchen nichts zu tun hatte und ihn aus einer Laune heraus zauste und ihm über den Rücken fuhr; danach nach dem Gewöhnlichen: dem Herumtrotten auf dem Gehöft, in der Umgebung, dem Zusammensein. Jetzt sehnt er sich sogar nach dem Stock und der Kette, an der er manchmal zur Strafe festgemacht wurde. Er sehnt sich nach dem Stock, der auf den Rücken niedergeht, nach dem schrillen Piepsen, das von allein aus der Kehle kam, weil am anderen Ende des Stocks die geballte Faust war, die Hand des Herrn.

XXIV
Javier spricht
    Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt habe. Damals in Madrid, als ich den Wind von den Pyrenäen auf dem Gesicht spüren wollte. Was hätte er bringen sollen? Ich glaubte, Freiheit sei F REIHEIT – ein Erdbeben, das Täler auftürmt und Berge zu Staub zermalmt, ich glaubte, dort, wo sie auftrete, bleibe nichts, wie es war; indessen kehrten wir aus Bordeaux zurück, waren mit den Papieren beschäftigt, mit der Vollstreckung des Testaments, der Auszahlung des Geldes an all die Schmarotzer, denen Vater – noch auf Mutters Bitte – jeweils ein paar Realen hinterlassen hatte, Krankenhäusern, Pilgerhäusern in Jerusalem und so weiter, und schlugen uns mit Leocadia und ihren Vorwürfen herum … Und plötzlich stellte sich heraus, dass ein Jahr, ein ganzes Jahr vergangen und ich kein freierer Mensch geworden war, kein bisschen.
    Natürlich hatte ich mehr Geld – aber war ich denn vorher arm gewesen? Mit einem solchen Vater? Die Geschäfte liefen gut, und wenn sie eine Zeitlang schlechter liefen, gab es schließlich einen ganzen Berg von Bildern, die man verkaufen konnte. Ein echter Goya aus sicherster Quelle. Und für den Notfall das, was ich aus der Teilung des Vermögens vor seiner Flucht aus Spanien erhalten hatte: Coreggio, Velázques, Radierungen von Rembrandt, alles, was das Herz begehrt. Wenn er wenigstens auf seine alten Tage aufgehört hätte – aber nein, er schleppte seinen Karren weiter wie ein Muli, wie ein Zugpferd, brachte dies und jenes zustande, Graphiken, Porträts, Zeichnungen, Miniaturen; blind wie ein Maulwurf war er, stocktaub, schwach wie ein Tintenfisch, aber er saß da und fummelte, malte und wischte, malte noch einmal, als könnte das, was in dieser Birne steckte und dort verschlossen war, nur durch die Finger einen Ausgang finden, nur heraus auf ein Papier, auf einen lithographischen Stein, auf ein Plättchen Elfenbein, auf ein Blatt des Notizbuchs; und wie es ihn umtrieb, wie er schauen wollte, seine halbblinden Augen mit Anblicken füttern. Von allem. Von Bettlern, von Rollschuhfahrern, von Verrückten. In Bordeaux noch, als er kaum mehr gehen konnte, mit drei Brillen, ließ er sich ins Irrenhaus fahren, verbrachte dort einen ganzen Tag und zeichnete ununterbrochen, solange das Licht reichte. Und wenn es nichts Interessantes zu sehen gab, träumte er. Sogar im Schlaf arbeitete er, phantasierte und übertrug diese Phantasien

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