Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
umzustimmen. War sie nur rücksichtsvoll oder wollte sie lieber allein sein? Und wenn ja, warum? Um an diesen blöden Stucki zu denken, diesen unterernährten Krauskopf? Nun musste er über sich selbst grinsen. Er schnappte sich eine Gratiszeitung, die gegen Abend erschien, und überflog den Bericht über den ›Grausamen Mord an Kantonsrätin‹. Im Hinterkopf meldete sich wieder die böse kleine Stimme, die fragte: Liebte er sie mehr als sie ihn?
Lina konnte nicht einschlafen. Sie machte das Licht wieder an. Auf dem Stuhl sah sie ihre Tasche. Die grüne. Der Polizist, wie hieß er gleich, Dürst, hatte sie ihr gegen Abend ins Büro gebracht. Er hatte ihr nicht sagen wollen, wo sie zum Vorschein gekommen war. Alles war noch drin gewesen. Das Portemonnaie. Das Handy. Ohne SMS von Hannes. Es war also mit Sicherheit kein Junkie gewesen, der ihr die Tasche weggerissen hatte. Im Skizzenbuch waren allerdings ein paar Blätter eingerissen. Hatte es jemand hastig durchgeblättert auf der Suche nach Tausendernoten? Hatte das Auffinden der Tasche mit dem Mord an Angela Legler zu tun? Große Augen hatte Raffaela gemacht, als Dürst mit der Tasche aufgekreuzt war. Sie war so erleichtert gewesen, als wäre es ihre eigene Tasche oder als wäre sie an ihrem Verschwinden schuld gewesen. Raffaela war halt etwas überspannt. Es war auch ein extremer Tag gewesen. Angela Legler war tot. Es quälte Lina ein bisschen, dass sie so offen zu Streiff gesagt hatte, sie sei froh, einen neuen Ratslektor zu bekommen. War das zu grob gewesen? Es stimmte, aber war es gut, alles zu sagen, was man dachte? Nein. Sie, Lina, war meist verschlossen, behielt vieles für sich. Wirkte gegen außen gelassen, eher kühl. Sie schaute auf die Uhr. Bald Mitternacht. Sie sollte schlafen. Heute war niemand richtig zum Arbeiten gekommen. Morgen musste sie wieder ran, die Ratsdebatte vom Montag und zwei kleinere Protokolle sollten diese Woche noch fertig werden. Vor allem jenes der AG KVK wollte sie sich vornehmen. Vielleicht enthielt es irgendeinen Hinweis. Sollte sie Hannes ein SMS schicken? Anrufen? Er ging auch meist spät zu Bett, dieser störrische Hannes, der ihre Seele kannte wie sonst niemand, der Nähe zu ihr aber nur in kleinen Portionen ertrug. Aber ganz ohne sie zu sein, ertrug er noch schlechter. Also balancierten sie seit Jahren auf dem Grat zwischen Zusammenkommen und Auseinandergehen und meist gar nicht so schlecht. Was wüsste ich mit einem Typen anzufangen, der dauernd Händchen halten will, dachte Lina. Gar nichts. Es war ihr unverständlich, dass Liebespaare einander versprechen konnten, keine Geheimnisse voreinander zu haben. Hannes würde nie erfahren, was sie empfand, wenn sie malte, wenn sie Farbe auf die Leinwand warf und sie mit einem groben Pinsel verstrich. Und das war auch nicht nötig. In ihrem Atelier war er noch nie gewesen. Von dem, was ihr seit Montag alles widerfahren war, wusste Hannes noch nichts. Sie hatte gezögert, ihn anzurufen, und es schließlich bleiben lassen. Sie waren ja am Wochenende verabredet. Ein Piepsen zeigte ihr die Ankunft eines SMS. Von Hannes. »Geht es dir gut? Schlaf gut. H.« Ja, es geht mir gut, dachte sie. Sie schrieb nicht zurück, aber schlief gleich darauf ein.
Auch Mario Bianchera war noch wach. Angela war tot. Hatte er sich etwas vorgemacht mit dieser Liebe? Es war sie gewesen, die auf ihn zugekommen war. Unter dem Vorwand, einen Bericht oder eine Sitzung mit ihm zu besprechen, hatte sie ihn zum Kaffee eingeladen, dann zum Essen. Irgendwann war ihm aufgegangen, dass ihr Interesse an ihm nicht nur beruflich war. Und er, ja, er war empfänglich dafür gewesen. Seine Scheidung lag anderthalb Jahre zurück, er hatte sich in seinem neuen Leben eingerichtet, aber er war nicht glücklich. Er solle sein Singleleben genießen, hatten ihm seine verheirateten Freunde geraten. Ausgehen. Frauen kennenlernen. Aber er war nicht der Typ dafür. In Bars fühlte er sich nicht wohl. Er war zu schüchtern, Frauen anzusprechen. Also verbrachte er seine Abende zu Hause, im Kino oder ab und zu in der Tonhalle. Meistens allein. Er freute sich immer auf das Wochenende, wenn Rubina zu ihm kam. Freitags um 18 Uhr durfte er sie abholen, sonntags um 18 Uhr musste er sie wieder abliefern. Während eines Arbeitslunches mit Angela hatte sie offen mit ihm zu flirten begonnen, hatte gesagt, er könne doch sicher ausgezeichnet italienisch kochen. Wen er denn bekoche? Sie hatte durchblicken lassen, dass ihre Ehe nicht mehr
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