Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
wir leben. Am Schluss ist es eine ureigene Entscheidung, ob man jemanden tötet oder nicht. In diesem Kontext wurde auch immer wieder die Frage aufgebracht, ob der Mensch einen eigenen Willen hat oder nicht. Dagegen schienen Untersuchungen zu sprechen, die die beunruhigende Erkenntnis zutage förderten, dass das Hirn offenbar eine Entscheidung trifft, Sekundenbruchteile, bevor das Bewusstsein nachzieht. Dazu hatte Streiff eine erfrischende Kolumne eines Zürcher Psychoanalytikers und Philosophen gelesen, der die Trennung zwischen dem Hirn und dem Ich eines Menschen einfach als Unfug abtat.
Was hatte den Mörder von Angela Legler zu seiner Tat bewogen? Hass? Rache? Angst? Liebe? Solche Gedanken erlaubte sich Streiff nur spätabends bei einem Bier. Tagsüber machte er die Knochenarbeit, ging Spuren nach, stellte hartnäckig Fragen, versuchte, Hinweise miteinander zu verbinden. Das würde er auch morgen wieder tun und deshalb, dachte er, war es höchste Zeit, seine fruchtlosen Überlegungen aufzugeben und schlafen zu gehen.
Donnerstag
Es war ein ruhiger Morgen im FahrGut. Im Sommerhalbjahr, vom März bis in den Oktober hinein, war der Betrieb lebhaft bis hektisch. Ab November wurde es ruhiger. Valerie machte in diesem Monat das Budget fürs nächste Jahr, eine Aufgabe, die für sie jedes Mal einen Nervenkitzel bedeutete. Würden sich ihre Annahmen und Berechnungen bewahrheiten? Die Existenz des Geschäfts hing davon ab. Sie dachte sich neue Werbestrategien und Marketingaktionen aus, überlegte sich, was für Produkte sie pushen wollte, was für ein Gesicht sie ihrer Website geben wollte.
Im Herbst und Winter war auch mehr Zeit für die Lehrlingsausbildung. Alban, der Lehrling, werkelte an diesem Morgen an einer kaputten Bremse, angeleitet von Priska. Sie war eine gute Mechanikerin. Nicht besonders kreativ, aber sie hatte einen Sinn fürs Praktische. Sie arbeitete zügig und lieferte solide Ergebnisse. Alban hatte im August angefangen, mitten in der Hochsaison. Er war ein wenig ins kalte Wasser geworfen worden. Das Geschäft war ständig voll gewesen und Valerie und Priska hatten wenig Zeit gehabt, sich intensiv um ihn zu kümmern. Aber er hatte sich nicht schlecht gehalten, vieles durch Beobachtung und Ausprobieren gelernt. Jetzt, im Spätherbst, nahm sich Priska viel Zeit, mit ihm Reparaturen zu üben, technische Zusammenhänge zu erklären, spezielle Werkzeuge zu zeigen und ihn in die Geheimnisse einer guten Kundenberatung einzuführen. Der große, kräftig gebaute 16-Jährige war ernsthaft bei der Sache. Er war handwerklich zwar nur mittelmäßig begabt, aber intelligent. In der Schule hatte er gute Noten. Vor den Kunden war er etwas schüchtern, aber das würde sich mit der Zeit schon geben, darin waren sich Priska und Valerie einig. Als eine Frau hereinkam, die ein nicht allzu teures Citybike wollte, ein Velo, um damit einkaufen zu fahren und andere kleinere Fahrten in der Stadt zu machen, winkte Priska Alban herbei.
»Mach du das mal, das kannst du schon.« Sie zog sich zu einer Reparatur zurück, behielt aber Alban und die Kundin im Auge.
»Wohnen Sie an einem Hang oder müssen Sie nur geradeaus fahren?«, hörte sie Alban fragen. Keine schlechte Frage, dachte sie. Die Antwort der Kundin verstand sie nicht, aber Alban, als er vorschlug: »Dann würde Ihnen auch ein Velo genügen, das sieben Gänge hat, Sie brauchen nicht unbedingt 15. Das ist dann günstiger. Zum Beispiel unser Modell Fledermaus.«
Alban führte die Kundin zu einer Reihe von Fahrrädern. Priska zwinkerte ihm aufmunternd zu.
Valerie war im unteren Stock, in ihrem Büro, und arbeitete an ihrer Website. Sie hatte eine neue Seite aufgeschaltet, an der noch Fehler zu korrigieren waren. Seit bald 15 Jahren führte sie das Geschäft an der Schmiede Wiedikon und es machte ihr immer noch Spaß. Manchmal war es natürlich eine Schinderei, im Sommer waren die Arbeitszeiten endlos. Während andere Leute abends in den Gartenbeizen saßen, hockte sie in der Werkstatt bis um 9 Uhr und reparierte die x-hundertste Bremse. Aber die neuen technischen Entwicklungen fand sie spannend und sie dachte sich gern Werbeaktionen aus, zum Beispiel ein Kinderfest, an dem sie ihre Kinderfahrräder und -anhänger präsentierte. Auch auf ihre Website verwandte sie große Sorgfalt. Sie schaltete nicht nur die aktuellen Angebote auf, sondern auch Seiten, auf denen sie mit selbstgefertigten Zeichnungen einfache Reparaturen beschrieb.
Sibel Evren, ihre Putzfrau, war daran,
Weitere Kostenlose Bücher