Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
sehr glücklich war. Ihr Mann habe sich so verändert. Früher sei er ein weltoffener Pfarrer gewesen, aber in den letzten Jahren seien seine Auffassungen immer strenger geworden und er habe etwas Missionarisches an sich, das sie früher nicht an ihm gekannt habe. Mario hatte diesem Sperrfeuer von Melancholie und Anmache nicht lange widerstehen können. Er hatte ihr ein dreigängiges Menü gekocht, eine kleine Portion Spaghetti al burro e salvia, gefolgt von Involtini mit einem Risotto Milanese und zum Schluss Panna cotta. Das war der Anfang ihrer Beziehung gewesen. Beziehung? War Beziehung das richtige Wort? War es für sie nur eine Affäre gewesen, eine unterhaltsame Abwechslung zu ihrer langweiligen Ehe? Warum hatte sie es ihrem Mann um keinen Preis sagen wollen? Warum verließ sie ihn nicht, wenn sie sich doch nichts mehr zu sagen hatten? Sie hätte bei ihm einziehen können, er hätte sie gern Rubina vorgestellt. Warum musste die Geschichte heimlich bleiben, wenn sie ihn doch liebte, wie sie sagte?
Er hatte sie auf die Probe stellen wollen. Das hatte sie sicher nicht von ihm erwartet, denn letztlich hatte er sich ihrem Willen immer gefügt. Er hatte ihr zeigen wollen, dass sie mit ihm nicht machen konnte, was sie wollte. Dass sie endlich Farbe bekennen musste. Er hatte einen schrecklichen Fehler gemacht. Er hätte es nie tun dürfen. Es hatte etwas ausgelöst, was er nie beabsichtigt hatte. Angela war tot. Und er war schuld daran. Er war selbstgerecht gewesen. Und jetzt hatte das Leben ihn bestraft. Ihm gezeigt, wohin solche übersteigerten Ansprüche an sich und die anderen führen konnten. Wie wenig man sie selbst zu erfüllen vermochte.
Vielleicht würde er Janine anrufen und sagen, er sei krank, er könne Rubina am Wochenende nicht nehmen. Er würde es nicht aushalten, wenn die Kleine ihn fragen würde: ›Was hast du, Papa?‹
Streiff saß bei einem letzten Bier am Küchentisch. Irgendwo da draußen in der Stadt war der Täter, die Täterin. Es beschäftigte ihn oft, was in einem Mörder nach der Tat vor sich gehen mochte. Wenn das Delikt ungeplant, im Affekt geschehen war, war er vermutlich in Schrecken und Angst. Das Tabu, einen Menschen zu töten, war in den meisten Menschen tief verankert. Und wenn die Tat Ergebnis eines Willens, einer Planung war? Streiff glaubte nicht, dass Mörder nach der Tat zufrieden waren, es sei denn, sie waren psychisch krank. Nein, das Verbot zu töten, war auch in den Tätern verwurzelt, die mit Vorsatz handelten. Streiff griff nach dem Unimagazin, in dem er sich den Artikel ›Grammatik der Moral‹ angestrichen hatte. Er las den Satz: ›Die Wirkung von Normen ist weitreichend, weil sie das Innere des Menschen nicht weniger als die letzten Winkel der äußeren Ordnung ergreifen.‹ Mörder hatten sich selbst herauskatapultiert aus dem Regelwerk, das dem Zusammenleben der Menschen zugrunde liegt. Sie hatten keinen Boden mehr unter den Füßen, sie waren allein mit ihrem Geheimnis, mit ihrer Schuld, von der sie ständig bedroht wurden. Das hatte der Mörder von Angela Legler vermutlich nicht einkalkuliert, aber jetzt wusste er, wo er angekommen war, an einem Ort, an dem er nichts mehr mit anderen teilen konnte, weil er seine Tat verbergen musste. Es gab Täter, die froh waren, wenn sie überführt wurden. Es gab solche, die sich selbst verrieten, indem sie, wenn sie betrunken waren, von ihrer Tat zu erzählen begannen. Andere gaben sich ungerührt, ließen Streiff nicht in sich hineinblicken. Wieder andere suchten nach Ausreden, schoben die Schuld von sich.
Der einzige Weg, vielleicht in die menschliche Gemeinschaft zurückzufinden, davon war Streiff überzeugt, war, sich wieder ihren Regeln zu unterstellen. Das bedeutete, die Strafe anzunehmen, die die Gesellschaft für den Regelverstoß vorgesehen hatte. In der letzten Zeit war er ab und zu auf Medienberichte gestoßen, die der Frage nachgingen, ob die Gene daran schuld waren, wenn jemand ein Verbrechen beging. Das ›Echo der Zeit‹ hatte über ein Urteil in Italien berichtet, das einen Mörder milde bestrafte, weil er ungünstige Gene hatte. Darüber konnte Streiff nur den Kopf schütteln. Er hielt es eher mit dem Gerichtspsychiater Frank Urbaniok, der in einem ähnlichen Zusammenhang gesagt hatte: Wir sind nicht die Marionetten unserer Gene. Richtig, dachte Streiff und nahm einen Schluck Bier. Wir alle tragen ein Stück Selbstverantwortung, egal, wie unsere genetische Ausstattung ist, egal, in welchen Umständen
Weitere Kostenlose Bücher