Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
Sie waren miteinander nach Hause gegangen und zusammen eingeschlafen. Sie blieben einen Augenblick auf der Sihlbrücke stehen und warfen einen Blick in den Schanzengraben. Er war dunkel und still.
»Ist doch eine eigenartige Idee, nachts allein da durchzugehen«, meinte Valerie.
Sie schlenderten weiter. Ein Mann kam ihnen entgegen, im Licht einer Straßenlaterne wurde einen Moment lang sein Gesicht beleuchtet. Valerie grüßte ihn beiläufig. In diesem Augenblick sah Streiff ein anderes Bild vor sich. Vor gut einer Woche auf dieser Brücke, ein großer, massiger Mann, der ihnen entgegengekommen war, leicht schwankend, betrunken oder auf Drogen, über der einen Schulter einen kleinen Rucksack. Das war doch derselbe Mann gewesen. Er drehte sich um, und auch der Mann warf einen Blick zurück.
»Wer war das eben?«, fragte er Valerie.
»Den solltest du doch kennen«, erwiderte sie. »Du hast ihn doch sicher befragt. Es ist Carlo Freuler, ein Arbeitskollege von Lina.«
Carlo Freuler. Jener arrogante Redaktor, der in der Befragung alles andere als entgegenkommend gewesen war. War das diese Kleinigkeit gewesen, die er übersehen hatte und die ihn seither gequält hatte? War es das, was ihm sein Unterbewusstsein seit Tagen hartnäckig zu signalisieren versuchte: dass der Mann, den er am Abend des Mordes ungefähr zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts gesehen hatte, der gleiche Mann war, den er befragt hatte, der Angela Legler gekannt hatte? Er hatte ausgesagt, er habe jenen Abend zu Hause verbracht, er sei etwa um 20.30 Uhr heimgekommen. Jetzt sah Streiff sein Gesicht deutlich vor sich. Es gab keinen Zweifel. Carlo Freuler hatte gelogen.
»Valerie, kannst du dich an den Mann erinnern, der uns am Mordabend hier gekreuzt hat?«, fragte er eindringlich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Er schwankte, trug den Mantel offen«, versuchte er ihrem Gedächtnis nachzuhelfen.
»Nein, ich habe wohl nicht darauf geachtet. Warum?«
Er antwortete nicht. Seine verdammte Prosopagnosie. Er beschleunigte seinen Schritt. Valerie spürte, dass er plötzlich ganz woanders war. Sie kannte das. Jetzt war er wieder Streiff, der Polizist. Auskünfte würde er ihr jetzt keine geben. Es war der erste Moment, in dem sie wieder eine Vertrautheit mit ihm empfand.
»Hör mal, ich kann schon allein zur Tram laufen, wenn du noch zu tun hast«, begann sie.
»Nein, wir sind ja gleich dort.«
Er küsste sie zerstreut, als der Dreizehner kam, und als die Tram losfuhr, sah sie, dass er bereits das Handy am Ohr hatte.
Staatsanwalt Welti war nicht begeistert von Streiffs spätem Anruf. Nachdem er den halben Abend Hemden gebügelt hatte, was er sehr gern und mit hervorragenden Ergebnissen tat, hatte er es sich vor dem Fernseher bequem gemacht und schaute eine neue Folge der Serie Kommissar Beck. Sie war der schwedischen Krimireihe von Sjöwall und Wahlöö nachempfunden, auch wenn die Fälle keine Ähnlichkeit mit jenen Krimis hatten. Aber Welti mochte den melancholischen Martin Beck und auch den manchmal unbeherrschten Gunvald Larsson, obwohl er fand, dass man den falschen Schauspieler für die Rolle gewählt hatte. Seine Katze schlummerte auf seinem Bauch. Als sein Telefon klingelte, drückte er seufzend die Aufnahmetaste des DVD-Players und meldete sich.
Streiff hatte sich in den Eingang der Confiserie Sprüngli zurückgezogen und erklärte dem leicht genervten Welti die Situation. Dabei umschiffte er sorgfältig die Tatsache, die ihn so beschämte und ärgerte, nämlich dass er wegen eines winzigen Defekts in seinem Gehirn ab und zu unfähig war, Gesichter wiederzuerkennen.
Welti meinte widerstrebend, dass die Sache wohl Zeit gehabt hätte bis morgen, aber Streiff ließ sich nicht vertrösten. Er wollte morgen möglichst früh Freulers Wohnung durchsuchen können. Der Mann vorhin auf der Brücke hatte sich umgedreht, im selben Moment, in dem Streiff ihm nachgesehen hatte. Ob er sich ebenfalls an die Szene am Dienstag vor einer Woche erinnerte? Vielleicht hatte er realisiert, dass Streiff in dieser Zehntelsekunde etwas begriffen hatte.
»Dieser Carlo Freuler hatte eine Woche Zeit, um Spuren zu beseitigen. Falls das überhaupt notwendig war«, gab Welti zu bedenken.
»Er ist arrogant, er hat sich sicher gefühlt«, wandte Streiff ein. »Wenn er der Täter ist, ist er die Sorte, die überzeugt ist, hundertmal gescheiter zu sein als die Polizei.«
Welti versprach, das Nötige in die Wege zu leiten.
Freitag
Es war 7.30 Uhr. Ingrid Freuler setzte
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