Saubere Verhältnisse
Augen öffnete, war sie beinahe erstaunt, daß seine kleine Bubenhand neben ihr auf dem Sofakissen lag und die Fernbedienung umschlossen hielt. Als ob sie einen anderen Körper, eine größere Hand erwartet hätte.
»Warum schaust du dir das an? Du verstehst doch sowieso nichts«, sagte Simon, als sie einen Versuch machte, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, und Simon etwas zur Serie fragte.
An diesem Abend ging sie früh zu Bett. Als sie auf dem Weg vom Bad durch die Diele kam, nahm sie das schnurlose Telefon mit ins Schlafzimmer. Sie dachte eine Weile darüber nach, was für Telefone sie bei Bernhard Ekberg gesehen hatte. Eines auf der Kommode in der Diele, eines an der Wand in der Küche und ein schnurloses in Bernhards Arbeitszimmer. Keines hatte ein Display, auf dem die Nummer des Anrufers angezeigt wurde, da war sie sicher, sie hatte sie alle schon abgestaubt.
Sie wählte Bernhards Nummer. Vielleicht war er auch schon früh zu Bett gegangen, es klingelte ziemlich oft, ehe er antwortete.
»Ich bin’s, Nora. Entschuldige, daß ich so spät noch störe, aber ich wollte hören, wie es dir jetzt geht.«
»Oh.« Er klang erstaunt, aber froh. »Vielen Dank, das ist lieb. Es geht mir wieder gut. Ich sitze hier und schaue einen blöden alten Film. Irgendeinen amerikanischen Mist. Manchmal kann man mit so was richtig gut entspannen.«
»Es freut mich, daß es dir besser geht«, sagte Yvonne und merkte, daß auch sie das respektvolle Siezen aufgegeben hatte, genau wie Bernhard. Sie beschloß, es dabei zu belassen.
»Weißt du, ich habe heute morgen wirklich geglaubt, ich würde sterben«, sagte er in fröhlichem Ton. »Ich dachte, das ist die Strafe Gottes. Glaubst du an die Strafe Gottes, Nora?«
An der Wand über ihr lief im Fernsehen eine amerikanische Komödie mit schwarzen Schauspielern. Sie hatte den Ton abgestellt, konnte die Dialoge jedoch durchs Telefon hören. Sie schauten offenbar das gleiche Programm.
»Ich glaube nicht an Gott. Und noch weniger an seine Strafen. Wie kommst du denn auf so etwas? Wofür sollte er dich strafen?« sagte sie verblüfft.
»Für meine Sünden natürlich«, sagte er fröhlich. »Ich glaube, er wollte mich erschrecken. Mich erschrecken und erniedrigen.«
»Erniedrigen?«
»Ja, vor dir, Nora. Ich habe mich erniedrigt gefühlt. Das mußt du verstehen. Wegen ein bißchen Angst so einen dramatischen Aufstand zu machen. Und du bist bei Rot über die Ampel gefahren und alles!«
Er lachte beim Gedanken daran.
»Wie in einem Film. Das war schon dramatisch, oder, Nora?«
»Es ist schön, dich lachen zu hören«, sagte sie. »Ich hoffe, du kannst heute nacht schlafen.«
»Danke, Nora. Und mit dem Donnerstag gibt es keine Probleme?«
»Überhaupt keine Probleme. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Nora. Vielen Dank für den Anruf.«
15
Als Yvonne am Donnerstag zu Bernhard Ekberg kam, stellte sie fest, daß sie Abscheu vor ihm empfand. Nicht vor dem, was er selbst »Erniedrigung« genannt hatte – sie fand nicht, daß Angst erniedrigend war –, sondern vor seinem … ja, seinem Aussehen ganz einfach. Die dicken Lippen, die nie ganz geschlossen zu sein schienen, sondern immer halb offen waren wie bei einem Kind, das ungeduldig auf eine Süßigkeit wartet. Die grobe runde Nase. Die braunen, feuchten Hundeaugen, die ihr folgten, bettelnd, fast fordernd. Und dieser Zug über dem Mund und dem Kinn, was drückte der aus? Etwas Unangenehmes, Ausweichendes. Etwas Feiges.
Bernhard saß im kleinen Zimmer im ersten Stock vor dem Fernseher und schaute TV-Shop. Er hatte dort gesessen, seit Yvonne gekommen war, verschlossen und mürrisch. Er hatte mit keinem Wort erwähnt, was am Montag geschehen war. Yvonne begrüßte ihn und machte sich dann ans Putzen. Als sie mit dem Staubsauger in sein Zimmer kam, sagte er mit lauter Stimme, um den Staubsauger zu übertönen:
»Die Hemden, die du neulich gebügelt hast, mußt du noch einmal bügeln.«
Sie machte den Staubsauger aus.
»Entschuldigung, aber warum?«
»Schau mal die Ärmel an. Sie haben lange Knitterfalten. Du mußt ein wenig sorgfältiger sein.«
Sollte sie ihm zeigen, wie traurig und ärgerlich sie war? Oder sachlich dagegen argumentieren? Oder einfach schweigen und die Zähne zusammenbeißen? Sie entschied sich für die letzte Variante.
Warum, dachte sie, als sie den Staubsauger wieder angemacht hatte, warum gibt es so viele Kurse über die Kunst zu führen, aber keine über die Kunst, sich führen zu lassen?
Sie beobachtete
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