Saubere Verhältnisse
Bernhard, während sie staubsaugte, er hatte den Blick auf den Fernseher gerichtet, wo eine lachende Frau auf ihrer phantastischen Fitneß-Maschine radelte.
Der arme Mann, dachte sie. Wie häßlich er ist, warum habe ich das nur noch nicht gesehen? Seine Frau hat ihn verlassen, und mit dem Aussehen findet er nie wieder eine neue.
Dieser Gedanke hätte ihr eine Warnung sein sollen. Sie hatte das schon einmal erlebt, aber das fiel ihr in diesem Moment nicht ein.
Sie war einmal für ein Projekt in einem Unternehmen angestellt gewesen und hatte mit einem netten, einfachen Mann zusammengearbeitet und sich diesem gegenüber neutral verhalten. Bis sie eines Tages feststellte, daß er eine Warze im Mundwinkel hatte. Zunächst konstatierte sie das nur, dann störte die Warze sie, und am Ende war der Mann so abstoßend für sie, daß sie sich kaum noch in einem Raum mit ihm aufhalten konnte. Für sie war er mißgestaltet, und sie glaubte, alle anderen sähen das genauso. Sie schwankte zwischen Mitleid und Wut.
Während einer Dienstreise nach Polen landeten Yvonne und er nach einer Veranstaltung im gleichen Taxi zum Hotel, und im Taxi wurde sie plötzlich ungeheuer stark von dem Warzenmann angezogen, sie begehrte ihn und ging mit ihm auf sein Zimmer. Sie beendeten die Beziehung – die in jeder Hinsicht unpassend war –, als sie wieder zu Hause waren, aber Yvonne war noch Monate danach schmerzlich in ihn verliebt.
Das Merkwürdigste war, daß er überhaupt keine Warze hatte. Ein harmloses Muttermal, so wie es die meisten Menschen irgendwo am Körper haben, hatte sich in ihrer Phantasie zu einer Mißbildung gesteigert. Das war vermutlich ein Schutz gegen die Anziehung, die sie unbewußt verspürt hatte und die ihr leicht hätte schaden können.
In ein Notizbuch mit dem Titel »Lehren des Lebens« – sie hatte es bei einem Kurs bekommen und war aufgefordert worden, regelmäßig Erfahrungen zu notieren – schrieb Yvonne mit deutlichen Druckbuchstaben: Wenn ein Mann, den man bisher als ganz normal empfunden hat, plötzlich starke Gefühle des Abscheus erweckt, muß man sich in acht nehmen. Sie hatte sich nach dieser Notiz unglaublich klug gefühlt.
Aber die »Lehren des Lebens« lagen in einem der schönen weißen Zeitschriftensammler im Büro von »Deine Zeit«. In Yvonnes Gedächtnis schienen sie keine Spuren hinterlassen zu haben.
Oder war es Noras Gedächtnis? Yvonne hatte manchmal das Gefühl, daß sie als Nora Brick anders war. Nicht nur äußerlich, in Kleidung, Sprache und Verhalten, sondern irgendwie auch tiefer. In Gedanken und Erinnerungen. Als ob Nora keinen Zugang zu den Erfahrungen hätte, die Yvonne gemacht hatte, und umgekehrt.
Den Blick immer noch auf den Fernseher gerichtet, sagte Bernhard:
»Glaubst du, daß es Vergebung gibt, Nora?«
Sie machte den Staubsauger aus. Im TV-Shop wurde nun ein Apparat gezeigt, der Tomaten in dünne Scheiben schnitt.
»Ja«, antwortete sie ein wenig überrascht. »Ja, das glaube ich.«
»Für alles? Auch für das Schlimmste?«
Sie wartete einen Moment mit der Antwort.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Wenn man sich eingesteht, was man getan hat, und aufrichtige Reue empfindet und dann um Verzeihung bittet – ja, dann gibt es auch Vergebung, glaube ich.«
Er warf ihr einen rätselhaften Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Sie wartete, aber als er nichts mehr sagte, machte sie den Staubsauger wieder an.
16
November. Schluß mit den klaren, blanken Tagen.
»Jetzt wird der Brunnendeckel draufgelegt«, sagte Bernhard.
Mit langsamen, kreisenden Bewegungen zog er den japanischen Rechen über den Kies des Steinteichs, Yvonne schaute ihm dabei zu.
»Der Brunnendeckel?«
Er zeigte auf die dicke, grauweiße Wolkendecke.
»Der Brunnendeckel. Manchmal denke ich Sargdeckel. Aber ich bezeichne es lieber als Brunnendeckel, ein großer, schwerer Brunnendeckel aus Beton. Jetzt wird er aufgelegt, und wir müssen sehen, wie wir im Dunkeln zurechtkommen, bis er wieder abgenommen wird. Vielleicht soll er uns gegen etwas schützen?«
»Fühlt es sich schwer an?« fragte sie.
Er schwieg und stützte sich auf den Rechen.
»Du erinnerst dich an die Angstattacke neulich. Wie wir in die Notaufnahme gefahren sind und alles. Ich hatte schon öfter solche Attacken. Jetzt weiß ich ja, was es ist. Aber ich kann kaum glauben, daß es nur psychisch ist.«
»Es sind physische Reaktionen, Bernhard«, wandte sie ein. »Das Herz schlägt schneller als normal, und die Atmung ist
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