Sauberer Abgang
mir leid«, sagte er. Dann biß er ab und kaute mit der Bedächtigkeit eines erfahrenen Gebißträgers.
Will las den Bericht zu Ende. Eine Putzfrau hatte den Toten in seinem Büro gefunden. Über die Todesursache wurde nichts gesagt. Warum das alles eine Meldung wert war, stand am Schluß des Artikels. Das Bankhaus Löwe überprüfe Unregelmäßigkeiten, hieß es da.
»Und ich?« Karl deutete auf die Zeitung.
Will schob sie ihm hinüber und stand auf. »Alles dir.«
Aber Karl hatte das Blatt bereits auf die Butter gelegt und grunzte nur.
Will rief Thomas an. Der hatte Sitzung. Bei Michel erreichte man nur den Anrufbeantworter und bei Julius Wechsler die Sekretärin, die ihn, wie alle alten Freunde ihres Chefs, mit unverblümter Mißbilligung behandelte. Will gab auf und öffnete das Notebook. Eine alte Freundin hatte ihm ein Kurzfeature für den Kulturrundfunk angeboten, vielleicht aus alter Zuneigung, vielleicht aus Mitleid. Nach zehn Minuten, in denen er sich zurückgelehnt und blöde auf einen Wasserfleck an der Zimmerdecke gestarrt hatte, klappte er den Computer wieder zu.
Karl hatte sich bereits angezogen und wollte »an die frische Luft«.
»Und wenn du wieder umfällst?«
Sein Vater sah Will an, als ob er sich verhört hätte. »Erstens falle ich nicht um, und zweitens sammelt mich im Notfall jemand wieder auf. Ich bin ja nicht aus der Welt.«
Will nickte. Natürlich. Er benahm sich wie eine Glucke. Wie eine Mutter. Wie seine Mutter.
Er tappte mißmutig in die Küche. Immerhin hatte der Alte abgewaschen – von Hand, Marga hatte ihm sicher nie erlaubt, die Geschirrspülmaschine auch nur anzurühren. Will hob die Nase und prüfte die Luft. Es roch. Es roch nach feuchten, ungeputzten Ecken und nach … Er traute sich erst nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
Komm, sag’s, forderte er sich auf. Es riecht. Es riecht nach vergangenen Jahrzehnten. Es riecht nach Verwahrlosung. Es riecht nach altem Mann.
Links die Schrankwand stand schon mindestens dreißig Jahre an dieser Stelle. Wenigstens war es nicht mehr das alte Küchenbüfett, das er als Kind mit Hingabe ausgeräumt hatte. Er öffnete die Schranktüren und rümpfte wieder die Nase. Das Geschirr ließ keine Ordnung erkennen, einer der Töpfe hatte keinen Henkel mehr, an einem anderen klebte dunkelbrauner Bodensatz. Und da, wo die Vorräte lagen … Er faßte mit spitzen Fingern nach den Dosen und Tüten. Alles klebrig.
Wäre er zum Nachdenken gekommen, hätte ihn der Rausch irritiert, mit dem er sich daran machte, Ordnung zu schaffen. Er räumte sämtliche Konservendosen aus dem Schrank auf den Küchentisch; die meisten waren noch in DM ausgezeichnet, einige Etiketten hatten sich abgelöst, andere verfärbt. Die Tüten mit getrockneten Erbsen, Linsen und Bohnen sahen nach Vorkriegsware aus, und im Reis hatten sich irgendwelche Tiere vermehrt. Oben auf der Marmelade, vor ewigen Sommern selbst eingekocht, hockte der Zucker wie weißlicher Schimmel, die drei Zuckertüten waren hart wie Beton.
Eine fast volle Tüte Mehl, die auf einem der oberen Regalböden festpappte, riß auf, bevor er sie in Sicherheit bringen konnte, und bestäubte die Küche. Will holte den Stuhl, stieg hinauf und inspizierte das Malheur. Da war was ausgelaufen.
Er rieb mit dem Finger über die rostroten Flecken und roch daran. Wahrscheinlich Tomatenmark. Wenigstens kein Fisch.
Selbst bei den Konserven, die noch etwas frischer wirkten, begann das Haltbarkeitsdatum bei der Jahreszahl mit einer Neunzehn. Tiefstes 20. Jahrhundert. Das alles gehörte in große, stabile Müllsäcke gepackt und in der Mülltonne versenkt. Aber in Karls kleiner Vorratskammer moderte lediglich eine Sammlung von HL-Plastiktüten vor sich hin. Will verschob das Problem auf später und machte sich an die andere Hälfte des Küchenschranks, wo das Geschirr stand.
Achtzehn Eierbecher unterschiedlichster Schönheit. Vier würden bleiben dürfen. Kaffeetassen ohne Henkel. Deckel ohne Töpfe. Leere Einmachgläser, Konservendosen mit sorgfältig abgeschnittenem Deckel. Plastikschüsseln, die bereits ausfransten.
In seinem Rausch hörte er nicht, daß jemand die Wohnungstür aufschloß. Er merkte noch nicht einmal, daß sein Vater in die Küche gekommen war, und zuckte zusammen, schuldbewußt, wie das Kind, das verbotenerweise den Küchenschrank ausgeräumt hat, als der Alte »Willi! Was machst du da?« brummte.
Will richtete sich auf. »Ich mache das, was schon seit Jahren fällig ist, ich räume
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