Sauberer Abgang
Teig. Das Ganze in eine gefettete Springform und ab in den Backofen. Max Winter wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und starrte aus dem Fenster. Manchmal hatte er den Baulärm ganz vergessen, der von da draußen hereindrang. Nur wenn wieder einmal irgend etwas in den Boden gerammt wurde, zuckte er noch zusammen. Die Skelette der beiden Türme schraubten sich langsam und stetig in die Höhe. Bald würden sie ihnen die Sonne nehmen. Ihm war das mittlerweile egal. Er hatte andere Sorgen.
Er stellte die Eieruhr auf 50 Minuten und trottete zurück in sein Zimmer. Seit Julius ihn einmal ertappt hatte, als er vor dem Spiegel saß und versuchte, wie Clint Eastwood in »Für eine Handvoll Dollar« zu gucken, achtete er darauf, daß er die Tür hinter sich schloß, damit er hörte, wenn jemand kam. Es war schon 17 Uhr, aber keiner seiner beiden Mitbewohner hatte sich bislang blicken lassen. Will studierte – offenbar ernsthaft. Julius studierte nicht mehr. Aber er tat etwas, das Geld einbrachte. Letzte Woche hatte er eingekauft – beim Plöger auf der Freßgaß’. Das mußte ziemlich teuer gewesen sein, aber Max war es ein Vergnügen gewesen, die Jacobsmuscheln zu sautieren und die richtige Sauce für den Hummer anzurühren.
Er setzte sich wieder vor den Spiegel. Kapitel 5, Lektion 2: Gefühle zeigen.
Liebe, Leidenschaft, Sehnsucht? Er sah aus wie ein Karnickel mit Myxomatose, wenn er leidenschaftlich in den Spiegel guckte. Haß, Zorn, Verachtung? Da funktionierte nur eines: Selbstverachtung. Selbstverachtung war einfach. Er brauchte sich nur zurückzulehnen und die blaßblauen Augen auf sich wirken zu lassen. Die ungesunde Gesichtsfarbe. Die viel zu schmalen Lippen. Er brauchte nur zu spüren, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach, auf den Handinnenflächen und der Stirn. Wie sich die dünnen hellbraunen Locken zu strecken und eng an den Schädel zu legen begannen, unwiderstehlich angezogen von der Feuchtigkeit der Haut. »Nur durch Mitgefühl ist eine fremde Seele zu verstehen.« Danke für den guten Rat, Michail Tschechow. Aber müßte man damit nicht bei sich selbst anfangen können?
Max verzog sein Gesicht. Auch Ekel gelang ihm gut. Er brauchte dafür nur an den feuchten Waschlappen seiner Mutter zu denken, den sie immer am Waschbeckenrand liegenließ. Oder an den spuckenassen Finger, mit dem sie ihm ins Gesicht fuhr, noch heute, wenn sie glaubte, ein Schmutzfleckchen zu entdecken.
Aber Freundlichkeit – Offenheit – Begehren … Er dachte an Jenny. An seidenweiche blonde Haare und spöttische blaue Augen. An Haut wie Samt. An das Tal zwischen ihren Brüsten, in das man hineinschaute, wenn sie das gelbe Sommerkleid trug. Und dann sah er, wie der Adamsapfel in seinem Hals hüpfte. Und wie seine Augen sich rundeten, wie bei einem Kleinkind, das ans Nuckeln denkt. Er ballte die Faust und drohte in Richtung Spiegel. Aber auch das sah lächerlich aus.
Laß sie über mich lachen, dachte er. Ich werde es überleben. Laß sie über mich weinen. Dann habe ich gewonnen.
Max Winter lächelte verlegen in sich hinein. Nächste Lektion, du Idiot, dachte er.
4
Karen mochte Hauptverhandlungen, die Elisabeth Wagner leitete. Die Richterin war klein, zierlich, mädchenhaft und wurde von allen, die es nicht besser wußten, unterschätzt. Elisabeth rächte sich dafür mit messerscharfem Witz, dessen Subtilität von den wenigsten Angeklagten verstanden wurde – aber sein Ziel schon: Elisabeth Wagner ließ keinen Zweifel daran, daß es eine Mißachtung des deutschen Rechtsstaates war, ihr nicht mit Respekt zu begegnen – nein: mindestens des deutschen Volkes, in dessen Namen sie Recht sprach.
Schon deshalb spielten sie beide das Spiel mit allen Finessen. Elisabeth war der »geschätzten Vertreterin der Anklage« gegenüber von ausgewählter Höflichkeit, und Karen ließ es an Formulierungen wie »Hohes Gericht« und großen Gesten der Zuvorkommenheit ebensowenig fehlen. Es war ein probates Gegengift zum Elend, das ihnen immer wieder gegenübersaß: alte Männer oder grüne Jungs, in den seltensten Fällen des Deutschen mächtig, die meisten wegen Bagatellsachen vor Gericht, die wenigsten in irgendeiner Weise schuldeinsichtig. Karen und Elisabeth waren sich meistens schnell darüber einig, wer eine Chance verdiente – die manchmal sogar darin bestand, einen jungen Mann in ein Gefängnis zu schicken, in dem er das erste Mal in seinem Leben saubere Wäsche kennenlernen und einen Deutschkurs besuchen konnte.
Dennoch war sie
Weitere Kostenlose Bücher