Sauberer Abgang
haben, weshalb sie weitererzählte. Über den Hunger und das ewige Frieren in ungeheizten Wohnungen, über Egoismus und Neid und überraschende Hilfsbereitschaft. Über den Versuch, im Frühjahr Gemüse anzubauen im Grüneburgpark.
Und wieder schrillte der Alarm. Der Wachmann kam mit seinem Hund, die Pistole in der ausgestreckten Hand. Zwei Gestalten rannten atemlos um die Ecke, direkt auf Will und Frau Sommer zu. Und dann …
Es ging alles so schnell. Leo fuchtelte mit der Signalpistole, der Schäferhund bellte, der Wachmann hob ebenfalls die Knarre, Frau Sommer sagte irgend etwas, dann knallte es, ein heller Blitz stieg auf in den Nachthimmel, dann knallte es ein zweites Mal. Will hörte Leo »Lauf!« flüstern. »Lauf doch endlich!« Und dann rannte er los.
Was wirklich passiert war, erfuhren sie erst am nächsten Tag aus der Zeitung. Aber Will wußte in dem Moment, in dem er zu laufen begann, daß es etwas Schreckliches war.
13
Die erleuchteten Hochhäuser am Horizont ließen die schmale Mondsichel noch blasser erscheinen. Will lag auf dem Rücken, die Bettdecke unters Kinn gezogen, und schaute durchs Fenster. Schlaflos in Mainhattan. Das hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Aber der Film war nicht mehr anzuhalten.
Ihm stand die Szene vor Augen, als ob es gestern gewesen wäre. Er und Michel waren zur Gerichtsverhandlung gegangen, das, fanden sie, gehörte sich so. Leo würdigte sie keines Blickes, obwohl Will verstohlen zu ihm hinüberwinkte.
Die Angelegenheit war atemberaubend schnell vorbei. Die Tatsachen waren unbestritten: Leo hatte einen Schuß aus der Signalpistole abgegeben. Die Lichtpatrone traf den Wachmann ins linke Auge. Der Wachmann hatte ebenfalls geschossen. Die Kugel traf Frau Sommer – tödlich. Alles eine Verkettung unglücklicher Umstände, behauptete der Verteidiger und forderte Freispruch. Der Staatsanwalt betrachtete die Sache politisch und forderte sieben Jahre – zumal gegen Leo eine Vorstrafe wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt sprach.
1981 war nicht das Jahr, in dem man jungen, langhaarigen Männern, die Waffen bei sich trugen, lautere Absichten unterstellte – selbst wenn es sich um so etwas relativ harmloses wie eine Signalpistole handelte. 1981 war das Jahr gewalttätiger Auseinandersetzungen mit der Hausbesetzerszene in Berlin und Frankfurt. Es war das Jahr der Anschläge – auf den amerikanischen Präsidenten und den Papst, auf den hessischen Wirtschaftsminister und den ägyptischen Staatspräsidenten. Es war das Jahr der Demonstrationen, 100000 Kernkraftgegner zogen im Februar gen Brokdorf, 300000 demonstrierten im Oktober gegen den Nato-Doppelbeschluß im Bonner Hofgarten. Und im November war die Lage an der Startbahn West eskaliert, einem bewaldeten Areal bei Frankfurt, das der Flughafen für seinen Ausbau beanspruchte, seit Jahren ein symbolträchtiger Ort für friedliche Hüttendorfbewohner und rauflustige Gewalttäter.
Der Staat demonstrierte sein Gewaltmonopol.
Doch der Richter schloß sich dem Staatsanwalt nicht an. Leo habe zwar dem Wachmann einen unersetzbaren Schaden zugefügt. Und die Sache mit der Vorstrafe sei ernst. Aber eine Strafe von fünf Jahren Haft genüge zur Verteidigung der Rechtsordnung.
Will setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe an. Es war erst ein Uhr, eigentlich viel zu früh zum Schlafen, dachte er, und liebäugelte mit einem weiteren Glas Rotwein. Er hatte Leo damals zum letzten Mal gesehen. Das Gerichtstheater war ihm völlig unwirklich vorgekommen: Richter und Beisitzer erhoben sich, ebenso der Staatsanwalt. Die paar Zuhörer im Sitzungsraum standen ebenfalls auf, Will und Michel, mit einer Spur von Trotz, als letzte. Der Verteidiger blätterte noch in den Akten, verpaßte den Moment und wurde gerügt. Dann begründete der Vorsitzende Richter sein Urteil. Der Staatsanwalt verzichtete auf Rechtsmittel. Und Leo …
Sein Verteidiger schüttelte den Kopf. Will konnte sehen, daß der Mann empört war. Aber Leo legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte ihm etwas zu.
»Ich nehme das Urteil an«, sagte er dann.
Will und Michel waren in diesem Moment wahrscheinlich die einzigen gewesen, die verstanden hatten, warum Leo auf Rechtsmittel gegen den Urteilsspruch verzichtete. »Er tut Buße«, hatte Michel ihm zugeflüstert. Er macht sich zum Märtyrer, hatte Will gedacht.
Er tappte in die Küche und goß sich ein Glas ein, die Hälfte trank er im Stehen, bevor er nachschenkte.
Damals trafen sie sich zum vorerst letzten
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