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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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schneller merken müssen. Aber er hatte sich nichts dabei gedacht, als Karl auch um zehn Uhr noch nicht zum Frühstück erschienen war.
    Um ehrlich zu sein: Will Bastian genoß es, ungestört die Zeitung zu lesen und sie mit niemandem zu teilen, bei dem man fürchten mußte, daß er auch noch daraus vorlas. Und seit er wußte, daß Max nicht ermordet worden war, entspannte er sich langsam. Das Treffen mit Leo würde alles aufklären. Sie waren einer Schimäre aufgesessen. Der Tod von Marcus und Thomas hatte andere Gründe.
    Später rief Vera an und weinte sich bei ihm aus. Es schmeichelte ihm, daß sie ihn zurückhaben wollte, egal, wie. So sagte sie das nicht, natürlich nicht – aber die Botschaft war deutlich: lieber ihn als gar keinen. Er tröstete sie, voller schlechten Gewissens, weil er ihr auf die eigentliche Frage keine Antwort gab. Und weil er an Dalia dachte.
    Erst um halb zwölf fiel ihm auf, daß Karl sich noch immer nicht hatte blicken lassen. Er klopfte, bevor er das Schlafzimmer seines Vaters betrat. Der lag im Bett und atmete wie ein Lungenkrebskandidat.
    Also tot ist er nicht, dachte Will erleichtert. »Aufwachen! Oder schläfst du deinen Rausch aus?«
    Sie hatten gestern lange zusammengesessen und über Marga gesprochen. Über die Liebe und den Krieg. Plötzlich hatte er geglaubt, seinen Vater zu verstehen, nach der zweiten Flasche Rotwein. Er hatte ihn angelächelt. Karl hatte mit zusammengezogenen Brauen mißtrauisch zurückgeguckt und dann das Lächeln erwidert, vage, so, als ob er noch üben müßte.
    Der Alte öffnete das rechte Auge und gab einen Laut von sich, der wie ein Schluchzen klang und auch ein Stöhnen sein konnte. Seine Hand zuckte über die Bettdecke. Dann öffnete er den Mund und lallte etwas, das Will nicht verstand. Aber er verstand das Gefühl, das ihm in den Magen fuhr.
    Angst.
    »Vater? Was ist los?« Er kniete sich neben das Bett, faßte die Hand des alten Mannes, die knochige knotige weiße Hand, die sich kalt und klamm anfühlte. Der Alte öffnete den Mund. Will sah auf den blassen, zahnlosen Gaumen und das Zäpfchen, das sich bewegte, als sein Vater zu sprechen versuchte. Er brachte ein langgedehntes »Aaaaah« heraus. Und dann endlich geriet Will in Bewegung.
    Der Krankenwagen war zehn Minuten später da. »Schlaganfall«, murmelte der Notarzt. »Hätten Sie mal früher angerufen!«
    Will spürte, wie seine Kehle eng wurde. Und dann sah er Karls Augen, als sie ihn auf der Bahre vorbeitrugen. Wie ein gefangenes Tier. Und wieder öffnete sich der Mund des alten Mannes. Und wieder kam kein Wort heraus, nur eine Speichelspur. Will griff nach der Hand seines Vaters und sagte: »Ich pack dir ein paar Sachen und komme gleich nach, okay?«
    Karl versuchte zu nicken. Das war das allerschlimmste. Als die Sanitäter aus der Tür heraus waren, setzte Will sich auf einen Küchenstuhl und fing hemmungslos an zu schluchzen.
     
    Die Schwestern waren alle jung und hübsch und aus Osteuropa. Will hielt sich an die erste, die ihm entgegenlief. »Keine Ahnung. Fragen Sie lieber …« Sie machte eine vage Handbewegung in eine unbestimmte Richtung. Die nächste, die ihm auf dem Flur begegnete, verwies ihn ans Schwesternzimmer. Dort standen drei der jungen Frauen um einen älteren Patienten herum, der ihnen anklagend seinen Arm hinhielt, in dem eine Kanüle steckte.
    Als er endlich nach seinem Vater fragen konnte und auf die Tasche zeigte, in der er Wäsche für Karl mitgebracht hatte, lächelte ihn eine der drei breit an und sagte: »Einen Moment!«
    Aus dem Moment wurden zehn Minuten. Dann trabte ein Pulk von Männern und Frauen in weißen Kitteln durch den Flur, an seiner Spitze eine Art Dr. Brinkmann, der seinem Troß Befehle und Belehrungen zuteil werden ließ. Will hatte sich schon halb erhoben, aber der Halbgott in Weiß wirkte nicht wie jemand, der sich von einem Esel wie ihm in seinem Lauf aufhalten ließ.
    Will lehnte sich resigniert in einen der orangefarbenen Plastikstühle auf dem Flur und wartete auf den richtigen Moment.
    Etwa eine halbe Stunde später geleitete ihn Schwester Benja auf die Intensivstation. Karl sah winzig aus inmitten der Schläuche und Drähte und Monitore, sein Atem klang gespenstisch laut in dem klinisch weißen Raum, trotz der Pieptöne, die seinen Herzschlag hörbar machten.
    »Wie steht’s?« fragte Will.
    Benja lächelte und hob die Schultern.
    »Aphasie«, sagte eine Stimme hinter ihm. Will fuhr herum. Ein junger Mann im weißen Kittel streckte ihm

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