Sauberer Abgang
anzuhalten, hätte am liebsten die Augen zugemacht. Dann setzte sie sich in Bewegung, war an ihm vorbei, Wotan neben sich, der strikt bei Fuß ging, als ob er begriffen hätte, daß er sie beschützen mußte.
Sie hatte gequietscht, als sie um den Tisch herumgelaufen war, gequietscht vor Angst und aus – Spaß, daran erinnerte sie sich noch genau. Sie hatte Angst gehabt, daß er sie erwischte und sie schlug, so wie immer, wenn sie »Widerworte« gab, wie er das nannte. Und sie hatte Spaß daran gehabt, ihm wegzulaufen, zu spüren, wie er immer unbeholfener wurde hinter ihr. Du kriegst mich nicht, hatte es in ihr gesungen. Nie holst du mich ein.
»Fang mich doch«, hatte sie gerufen, als ob alles ein Spiel wäre.
»Dalia! Jetzt kommst du her!« Sie wußte damals wie heute nicht, ob ihre Mutter Angst vor dem brodelnden Zorn des Mannes hatte – oder ob sie ihm die Tochter überlassen wollte, wie so oft. Um des lieben Friedens willen. Für die gerechte Strafe. »Weil man seinem Vater nicht widerspricht, hörst du?«
Sie lief um den Küchentisch herum, quietschend. Sie hörte ihre Mutter weinen und schimpfen. Und dann fühlte sie seine Hand in ihrem Haar. Sie spürte seinen Atem, die Hitze seines Körpers, hörte ihn schnaufen. Und dann wurde sie an den Haaren nach hinten gerissen. Hörte einen Schlag, einen Aufprall, ein Stöhnen. Spürte einen Luftzug. Hörte ein Geräusch, wie von einem Apfel, der auf den Boden prallt und in Stücke zerspringt.
Der Griff um ihr Haar lockerte sich.
Mama schluchzte auf. Dann hörte sie das Geräusch noch einmal. Diesmal klang es, als ob der Apfel schon Mus geworden sei. Sie rappelte sich auf. Ihre Mutter hatte die Pfanne in der Hand, in der sie die Bratkartoffeln zubereitete – es war eine ganz besondere Pfanne, eine aus schwarzem Eisen, eine schwere Pfanne, an die Dalia nicht rangehen durfte, »das ist zu gefährlich, Schatz«.
Um den Kopf ihres Vaters hatte sich eine Blutlache gebildet. Mama ging auf die Knie und schluchzte und schlug die Hände vor den Mund. Und dann sagte sie: »Hol den Putzeimer, Dalia.«
Das kriegt man nur von Hand weg.
Sie hatten die halbe Nacht in der Küche auf den Knien gelegen und gewischt und gewienert und geweint. Genützt hatte es nichts. Natürlich nicht.
Wotan zog wieder an der Leine. »Ruhig«, sagte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Bei Fuß, Wotan.«
Er drehte sich zu ihr um, wedelte fragend mit dem Schwanz und ließ die Zunge aus dem Maul hängen, als ob er lachte.
Ruhig, Dalia, dachte sie. Es ist vorbei. Alles ist vorbei. Alles ist sauber.
Das, was auf dem Küchenboden lag und nach Schnaps stank und Kotze und Pisse und sich nicht rührte.
Alles weggeputzt.
Wie bei Marcus Saitz. Sie hatte vollautomatisch weitergeputzt, als sie ihn tot in seinem Büro fand, neben dem umgestürzten Ledersessel. Aber das konnte sie niemandem erklären, vor allem nicht der Polizei. Und es gab erst recht keine Erklärung dafür, daß sie ein mögliches Beweismittel hatte mitgehen lassen – das Amulett, das Will Pentakel nannte.
Und wie sollte sie begründen, daß sie sich mehr und mehr vor Johanna Maurer fürchtete? Sicher, die Maurer war immer zur Stelle gewesen, wenn Dalia einen Toten gefunden hatte. Vielleicht hatte sie sogar dafür gesorgt, daß Dalia über die Toten stolperte. Sie hat mich zum Sündenbock machen wollen, dachte Dalia.
Sie merkte, wie sich Wut über ihre Angst legte. Ich bin weder ein Kaninchen noch ein Sündenbock, dachte sie trotzig.
Und mußte man gleich hirnlos werden, nur weil ein Mann schöne graublaue Augen hat? Welche Rolle spielte Will Bastian in diesem Scheißspiel? Und was sollten die Amulette neben den Toten? »Das Pentakel« hatte Will sie genannt. Will Bastian, der Johanna Maurer umarmt hatte, als wären sie gute, ja allerbeste Freunde. Sie hatte die beiden beobachtet, wie sie sich an der Ampel trafen, vorgestern abend, als sie noch gehofft hatte, er würde auf sie warten. Aus die Maus, dachte sie. Wer Johanna Maurer in die Arme fällt, ist nicht mein Freund. Und dann waren die beiden untergehakt davongegangen. Die Erinnerung daran gab ihr einen Stich. Aber Sentimentalität war verboten.
Wotan jaulte leise und zog an der Leine. Dalia blickte auf. Sie stand mitten auf dem Weg und starrte Löcher in den Frühlingshimmel.
Sie mußte zur Polizei gehen. Es gab keine andere Wahl.
15
Will machte sich Vorwürfe. Er würde sich immer Vorwürfe machen. Er hätte schneller reagieren, es
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