Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
anderen Gesichtspartien einer kritischen Begutachtung. Was kann ich mir sonst noch vornehmen, fragte ich mich unwillkürlich. Vielleicht mein Kinn? Bisher geht es sanft und konturlos in den Hals über, eine Art kombinierte Kinn-Halspartie. Ein Kals.
Und was ist mit meiner leicht asymmetrischen Nase? Vielleicht sollte ich die endlich begradigen lassen? Ein Weilchen erging ich mich in solchen Erwägungen, doch dann rief ich mich entschlossen zur Ordnung. Schließlich ist mir durchaus bewusst, dass Eitelkeit zu einer Obsession werden kann, die schlimmer ist als Schlaf- und Beruhigungsmittelsucht zusammen.
Mittlerweile kann ich nachvollziehen, wieso das Streben nach körperlicher Perfektion gelegentlich Züge von Wahnsinn annimmt. Wieso ein Reality- TV -Star sich innerhalb eines Monats 43 Schönheitsoperationen unterziehen kann. Und wieso Beauty-Junkies der Autorin Alex Kuczynski Stoff genug für ein ganzes Buch liefern.
Retinsäure befeuert nicht nur den allgemeinen Schönheitswahn, sie hat auch einige ganz konkrete Nachteile: Ihre Anwender ziehen sich schneller einen Sonnenbrand zu, weil die Haut mehr UV -Licht absorbiert. Und wer weiß, welche weiteren, bisher unbekannten Nebenwirkungen sich im Laufe der Jahre herausstellen werden. Obendrein ist die Creme ein schwarzes Loch für den Geldbeutel.
Ich verabschiede mich daher von meiner Retin-A-Creme und räume sie ganz hinten ins Badezimmerschränkchen. Allerdings werde ich sie vielleicht wieder zum Einsatz bringen, bevor ich für dieses Buch auf Lesereise gehe. Aus rein geschäftlichen Gründen natürlich.
Die Bronzezeit
In Kindertagen kam meine Haut nur selten mit Sonnencreme in Berührung. Ich fand es toll, schön braun zu sein – so wirkte ich nicht ganz so dürr, glaubte ich damals. Weshalb meine Haut heutzutage aussieht wie eine Collage aus grobem Leinen, Mondkratern, Klecksen und Krähenfüßen.
Als wir neulich im Urlaub waren, wurde mir diese Tatsache auf liebenswürdige Weise in Erinnerung gebracht. Wir kamen nämlich mit einer Mitreisenden ins Gespräch, die Julie und mir Komplimente über unser jugendliches Aussehen machte. Wir lächelten erfreut. Jedenfalls bis ihr Gatte, seines Zeichens Dermatologe, Einspruch erhob: »Wie kommst du denn da drauf? Also ich sehe reichlich Hautschäden. Jede Menge sogar.«
Er schätzte unser Alter sehr realistisch ein, um die 40. Julie hat ihm noch immer nicht verziehen. »Wenn Sie nicht gerade als Wahrsager auf dem Rummel tätig sind, behalten Sie Ihre Altersschätzungen gefälligst für sich«, sagte sie ihm.
Trotzdem hatte er mit seinem Urteil über unsere Haut völlig recht.
Ich habe beschlossen, Coco Chanel für unsere Hautschäden verantwortlich zu machen. Als ich mich intensiver mit Sonnenschutzprodukten beschäftigte, fand ich heraus, dass sie als Begründerin des modernen Sonnenbadekults gilt. Jahrhundertelang hatten Vertreter des Bürgertums und Adels ihren hellen Teint vor der Sonne geschützt, um sich von den gewöhnlichen Bauern abzugrenzen, deren braungebrannte Haut von ihrem Tagwerk auf dem Feld zeugte. Jedenfalls bis 1923. In dem Jahr machte Coco Chanel am Mittelmeer Urlaub auf der Yacht eines befreundeten Aristokraten. Sie wurde an Bord gesehen, und die Nachricht von ihrem tiefbraunen Teint machte die Runde. Bald darauf war karamellfarbige Haut der letzte Schrei und wurde zum Erkennungsmerkmal aller, die sich Urlaub in sonnigen Gefilden leisten konnten.
Nachdem ich diese Geschichte gelesen hatte, nahm ich Coco Chanel in meine Liste der fünf größten Gesundheitsverbrecher auf. Stellen Sie sich versuchsweise vor, in wie vielen Fällen diese Frau für den Tod durch Hautkrebs verantwortlich ist. Sind es Tausende? Oder gar Millionen?
Doch vielleicht urteile ich zu streng. Vielleicht darf ich dieser eleganten Dame, der die Welt sowohl den gefederten Damenhut als auch Marilyn Monroes Nachtgewand (»fünf Tropfen Chanel Nr. 5«) zu verdanken hat, einfach nicht böse sein. Vielleicht wäre es ungerecht, ihr allein die Schuld zu geben. Vielleicht. Doch zu meiner Verteidigung sei an dieser Stelle kurz erwähnt, dass noch ein weiterer, ziemlich großer Schatten auf diese Lichtgestalt fällt: Im Zweiten Weltkrieg hatte sie während der deutschen Besatzung Frankreichs offenkundig jahrelang ein Verhältnis mit einem Nazi-Agenten und wurde nach Kriegsende von der französischen Regierung der Kollaboration bezichtigt. (Einem entsprechenden Gerichtsverfahren entging sie nur dank der Intervention von Freunden aus
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