Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
ich vor 250 Jahren in Frankreich gelebt, wäre er ein rechter Segen gewesen. In der Encylopaedia Britannica las ich, dass zu Zeiten Ludwigs XV . Muttermale en vogue waren. Die elegante Dame wie der elegante Herr griffen zu kleinen Pflastern aus schwarzem Taft, um die Schönheit und Blässe ihres Teints zur Geltung zu bringen. In modebewussten Kreisen besaß man eine reiche Auswahl verschiedenster Schönheitspflästerchen. Wer eher auf subtile Wirkung bedacht war, verwendete einfache schwarze Punkte. Mondäne Zeitgenossen jedoch griffen zu Pflastern in Form von Sternen, Halbmonden, aufwendig gestalteten Tieren, Insekten oder abstrakten Figuren.
Auch die Platzierung der Schönheitspflaster spielte eine große Rolle. Sie kam einer Chiffre gleich: Ein Pflaster im Augenwinkel symbolisierte Leidenschaft, eines auf der Stirn hingegen Würde. Die Damen führten ihre Pflästerchen stets in kostbaren Behältnissen mit sich, um sich bei Hofbällen im Zweifelsfalle spontan ein neues ins Gesicht kleben zu können.
Leider hat mein Muttermal weder Giraffen- noch Spinnenform. Es ist ein stinknormales Mal, das in etwa dieselbe Größe und Farbe hat wie ein Schokotropfen. Und bedauerlicherweise ernte ich damit nicht etwa kokettes Lächeln und verschwörerisch flatternde Augenlider der Damen bei Hofe, sondern lediglich neugierige bis schlankweg entsetzte Blicke.
Nach einem Besuch beim Hautarzt – nicht der unverschämte Gatte unserer Urlaubsbekanntschaft, sondern eine sehr nette Freundin der Familie namens Dr. Eileen Lambroza – beschließe ich, meinen Leberfleck entfernen zu lassen. Und den auf meinem Rücken gleich mit, denn er ist asymmetrisch, was Dr. Lambroza beunruhigt.
Ein Muttermal – der medizinische Fachbegriff lautet »Nävus« – ist eine abnormale Wucherung von Hautzellen, die das braunschwarze Pigment Melanin produzieren. Hellhäutige Menschen haben durchschnittlich 30 Muttermale am Körper. Diese stellen ein nicht unbeträchtliches Gesundheitsrisiko dar: Jährlich wird bei über einer Million Amerikaner Hautkrebs diagnostiziert. Und weltweit sterben laut Weltgesundheitsorganisation pro Jahr mindestens 50 000 Menschen an Hautkrebs, der durch einen mutierten Leberfleck ausgelöst wurde.
Ein paar Tage später habe ich einen Termin bei einem plastischen Chirurgen, einem orthodoxen Juden. Aus den Gläsern seiner Brille ragen Miniaturteleskope hervor. Er studiert mein Muttermal aufmerksam und teilt mir sodann die Ergebnisse seiner Analyse mit.
»Das Ding ist ja so groß wie Salt Lake City!«
Wenigstens hat er für seinen Vergleich nur eine mittelgroße Stadt ohne allzu großen Vorortgürtel ausgewählt.
Der Eingriff dauerte keine 20 Minuten. Ich konnte nicht sehen, was genau passierte, aber ich spürte den Pieks einer Nadel, hörte ein Geräusch wie von einer Sandpapierfeile, roch verbrannte Haut und spürte, wie in der Nähe meines Nasenlochs an einem Faden gezerrt wurde.
Der Arzt war freundlich und offenbar eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Außerdem war er sehr gesprächig. Nun weiß ich allerdings von einer Recherche zum Thema Multitasking, dass Gespräche die Leistungsfähigkeit mindern können. Also reagierte ich einsilbig auf seine Fragen. Nein, ich spreche nicht polnisch. Nein, keine besonderen Vorkommnisse im Job. Ich war so wortkarg, dass ich deswegen ein ganz schlechtes Gewissen hatte.
Als ich nach Hause kam, saß Julie an ihrem Schreibtisch und bezahlte gerade ein paar Rechnungen. Einige Sekunden lang fixierte sie mich, als wolle sie ein vierdimensionales räumliches Rätsel lösen.
»Du hast dir den Leberfleck wegmachen lassen?«
Ich nickte.
»Und du hast mir gar nichts gesagt? Keine Vorwarnung? Keine Debatte?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Aber es gehörte doch zu dir! 42 Jahre lang!«
Ich sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Echte Tränen. Nie hätte ich gedacht, dass ein kleines Melaninhäufchen so viele Gefühle auslösen kann. Ich wurde nervös.
»Wäre es dir lieber, wenn ich es noch hätte?«
»Nein, ich bin glücklich. Wahnsinnig glücklich. Ich wollte dir nie meine Meinung zu dem Ding sagen, aber jetzt …«
Es waren also Tränen der Freude, nicht der Trauer. Für Julie war mein Entschluss eine freudige Überraschung. Interessant. Da sind wir seit über zehn Jahren verheiratet, und noch nie hat Julie mich auf meinen Leberfleck angesprochen. Weil sie meine Gefühle nicht verletzen wollte. Was denkt sie wohl sonst noch insgeheim über mich und behält es rücksichtsvoll
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