Saure Milch (German Edition)
und fünfhundert
Meter vom Stadtkern entfernt. Außerdem hat man freie Sicht auf die Berge. Der
Kauf ist perfekt. Letzte Woche sind meine Möbel angekommen, und ich habe versucht,
die vier Zimmer gemütlich einzurichten.
Kaum war ich mit dem Auspacken und dem Einräumen fertig, da ist
etwas Schreckliches passiert. In einem Wäldchen ganz in der Nähe wurde eine
Tote gefunden. Die örtliche Polizei ist ratlos. Ich habe mich ein wenig
umgehört und bin zu dem Schluss gekommen, dass sich ohne Hilfe von Miss Marple
diese mysteriöse Geschichte nicht aufklären lassen wird. Könntest du vielleicht
herkommen, Fanni? Ich würde dir gerne das Zimmer mit Meerblick zur Verfügung
stellen, solange du da bist.«
Was Sprudel unerwähnt ließ: Die Tote im Wäldchen war
siebenundachtzig Jahre alt, und sie war zweifellos eines natürlichen Todes
gestorben, dort unter den Kastanien auf ihrem eigenen Grundstück. Sie hatte
seit jeher allein gelebt, und die Polizei war nur deshalb ratlos, weil keiner
sagen konnte, wer sich um die Beerdigung und um den Nachlass zu kümmern hatte.
Eine knappe Woche darauf stellte Fanni frühmorgens die
noch ungelesenen Kriminalromane in die Regale zurück und begann zu packen. Sie
besaß ein Flugticket nach Genua, ausgestellt für den 9. Oktober.
Leni würde sie vom Flughafen abholen.
»Wir fahren am kommenden Wochenende nach Levanto«, hatte Leni am
Telefon gesagt, »und wandern von da aus nach Monterosso.«
Und danach werde ich einen Besuch bei Sprudel machen, dachte Fanni,
während sie Badeanzug und Sonnenöl im Koffer verstaute.
Sie brachte ihr Gepäck in den Flur, kam zurück und warf einen Blick
in die Runde. Im Badezimmer glänzten die Waschbecken, die sie wie jeden Morgen
mit Wiener Kalk gescheuert hatte. Bahamabeige – vor dreißig Jahren hatte
sie diese Farbe, die im Sanitärbereich ganz neu auf dem Markt gewesen war, für
ihr Badezimmer ausgewählt. Zwei Einhandmischer blitzten silbern. Der Schriftzug
»Ideal Standard« war immer noch deutlich zu lesen. Zugeständnisse hatten eben
sein müssen, das Budget war begrenzt gewesen.
Im Wohnzimmer standen die Bücher friedlich in ihren Regalen. Es tat
Fanni weh, sie zu verlassen.
»Meine Güte, Fanni«, tadelte sie sich, »du kommst ja demnächst
wieder.«
Sie trat an die Terrassentür, sah in den Garten hinaus und fragte
sich, wie es sein würde, wenn sie wiederkam.
In den dreißig Jahren, die Fanni hier in Erlenweiler gelebt hatte,
war sie immer eine Außenseiterin gewesen. Sie hatte sich nie richtig eingefügt
und sich oft erlaubt, den eigenen Standpunkt zu vertreten. Geranien abzulehnen,
Gardinen zu verschmähen, Mirza zu mögen.
Seit Meiser im Gefängnis saß, war Fanni eine Verfemte. Klein, nach
seiner Entlassung plötzlich redselig geworden, hatte jedem, der seinen Hof
betrat, brühwarm erzählt, was Fanni Rot bei der Aufklärung des Falles für eine
Rolle gespielt hatte. Für ihn war Fanni eine Heldin.
Die Leute von Erlenweiler dagegen nannten sie Nestbeschmutzerin,
Verleumderin, Denunziantin und mieden sie. Sogar Böckl verhielt sich wortkarg,
wenn er mit ihr zusammentraf. Zudem sickerte mit der Zeit durch, dass sich
Fanni und Sprudel dort und da heimlich getroffen hatten.
Wie, fragte sich Fanni, war das möglich? Klein wusste nichts davon.
Niemand wusste davon! Haben mich die Lurchis verraten, die Krähen, die Ameisen?
Oder saß Böckl irgendwo mit Flinte und Feldstecher auf einem Hochsitz?
Und wie, überlegte sie, konnte das Gemunkel aufkommen, dass mir
Meiser – erfolglos, wie es heißt – eine Zeit lang die Hölle heiß
gemacht hätte? Der Reifenplatten, das Gitter … Praml? Hat Praml zwei und
zwei zusammengezählt?
Fanni prüfte, ob die Terrassentür verschlossen war, und wandte sich
zum Gehen.
Die Nachbarn haben neuerdings Angst vor dir, Fanni, dachte sie.
Angst vor dem, was du über sie herausgefunden hast und noch herausfinden
könntest. Vielleicht hat der eine oder andere Dinge zu verbergen, die ihn,
würden sie aufgedeckt, stante pede vor den Kadi bringen könnten.
Die Nachbarn zogen Gesichter, als wäre ihnen die Milch im
Frühstückskaffee sauer geworden. Und die saure Milch hatte einen Namen: Fanni
Rot.
Fanni nahm ihr Gepäck auf, ging hinaus und warf einen letzten
überdrüssigen Blick auf den Türkranz.
»Die Leute von Erlenweiler feinden dich an, Fanni Rot«, sagte sie
laut, »denn du ganz allein bist schuld daran, dass Meiser im Gefängnis sitzt!
Du mit deinem Herumschnüffeln, Bespitzeln und
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