Saure Milch (German Edition)
das
Musterungszentrum befand, sodass Hans Rot täglich nach der Mittagspause oder
vor Dienstschluss auf einen Sprung bei Tante Luise vorbeischauen konnte.
»Und du«, hatte er zu
Fanni gesagt, nachdem Tante Luise ins Seniorenheim umgesiedelt war, »wirst dich
auch öfter bei ihr sehen lassen. Wenigstens einmal die Woche.«
»Gut«, hatte Fanni sich
gefügt, »regelmäßig mittwochs nach dem Einkaufen werde ich sie besuchen.«
So hatte sie es dann
auch eingeführt und stur beibehalten – Josefi-Umtrunk, Kapelleneinweihungen,
Maibaumaufstellen, Grillfest, Nikolausfeier hin oder her.
Weil
du ein verstocktes, widerborstiges, dickschädeliges Trumm bist!
Ja.
Eine
Soziopathin, wie Hans Rot schon vor Jahren richtig diagnostiziert hat!
Ja.
So eilte Fanni also auch
am Mittwoch, dem 23. Juni, um sechzehn Uhr die Hintertreppe des Seniorenheims
hinauf und stieß dort, wo die Stufen auf halbem Weg zwischen Erdgeschoss und
erstem Stock eine Biegung machten und dadurch einen breiten Absatz entstehen
ließen, auf die blutbefleckte Leiche – genau genommen auf die mutmaßliche
Leiche – des Pflegers Roland Becker.
Es war keineswegs das
erste Mal, dass Fanni ein Todesopfer entdeckte. Im Vorjahr hatte sie Willi
Stolzer tödlich verletzt im Deggenauer Klettergarten gefunden, und etliche
Monate davor hatte sie den Birkdorfer Pfarrer leblos am Grab des Bürgermeisters
liegen sehen. Drei Jahre war es her, dass Fanni auf dem Gipfel des Großen
Falkenstein jenem weißen Turnschuh begegnete, der zu einem ermordeten Mädchen
gehörte; und vier Jahre waren vergangen, seit Fanni die pinkfarbene Sandale an
einer Toten erblickte, die als Fannis Nachbarin Mirza bekannt gewesen war.
Alle gewaltsam ums Leben
gebrachten und kurz darauf von Fanni aufgefundenen Personen hatten stets
geduldig ausgeharrt, bis die Polizei eintraf. Sie hatten sich untersuchen und
obduzieren lassen, hatten dies und das preisgegeben und letztendlich in der
einen oder anderen Weise auf den Täter hingewiesen.
Doch diesmal sollte
alles anders sein.
Fanni drückte sich an
dem reglos Daliegenden vorbei und hastete die Treppe zum ersten Stock hinauf,
um Hilfe zu holen.
Eine Schwester muss her,
besser noch ein Arzt, pochte es in ihrem Kopf. Womöglich lässt sich Roland
wiederbeleben – mit Sauerstoff, mit Herzmassage, mit irgendwas. Dass er daliegt
wie ein Toter muss noch gar nichts heißen. Er ist doch noch so jung – dreißig
höchstens.
Schwesternzimmer,
zweiter Gang links!
Außer Atem erreichte sie
die Tür mit der Aufschrift »Station I«.
Fanni klopfte kurz an,
dann drückte sie die Klinke und öffnete. Drei leere Stühle und drei leere
Kaffeetassen glotzen ihr entgegen. Sie warf die Tür wieder zu und schaute
gehetzt den Gang hinauf und hinunter.
Aufenthaltsraum
– im nächsten Flur!
Fanni setzte sich in
Bewegung. Auf jedem Stockwerk gab es eine gemütliche, durch Paravents und
Pflanzen vom Hauptflur abgetrennte Ecke, in der sich diejenigen Senioren
zusammenfanden, die ein, zwei Stündchen in Gesellschaft verbringen wollten.
Fanni rechnete damit, dort auch eine der Schwestern anzutreffen, denn Luise
hatte ihr erzählt, dass das Pflegepersonal alle Hände voll damit zu tun hatte,
in den Aufenthaltsräumen Streit zu schlichten und Tränen zu trocknen.
Doch nicht einmal Dellen
in den Polstermöbeln zeugten davon, dass kürzlich jemand hier gesessen hatte.
Fanni begann zu hecheln.
Wo waren sie denn alle? Wo, verflucht noch mal, waren die Schwestern? Um vier
Uhr nachmittags mussten sie weder Mahlzeiten verteilen noch Medikamente
ausgeben.
Lauf
einfach die Gänge entlang. Irgendwo musst du ja auf jemanden treffen!
Fanni rannte los.
Sie bog zweimal ab,
rannte weiter, nahm die nächste Ecke und stieß in etwas Weiches.
Als sie den Blick hob,
sah sie in die vorwurfsvollen Augen des Pflegedienstleiters Erwin Hanno.
Er nahm sie bei den
Schultern und schob sie ein Stückchen von sich weg, damit wieder Luft zwischen
sie und seinen fülligen Körper strömen konnte.
Fanni registrierte, dass
Herrn Hannos Schnurrbart indigniert zitterte.
»Aber Frau Rot«, sagte
er streng. Plötzlich stutzte er. »Geht es Ihrer Tante etwa nicht …«
Fanni schüttelte
ungestüm den Kopf. »Nein, es handelt sich um Roland. Schnell, kommen Sie mit.
Roland Becker, der Pfleger, liegt blutüberströmt auf der Hintertreppe.«
Sie begann wieder zu
laufen.
Weil sie keine Schritte
hinter sich hörte, wandte sie den Kopf und rief über die Schulter zurück:
»Beeilen Sie
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