Saure Milch (German Edition)
dem
Pfleger-Phantom nicht vorerst einstellen?
Fanni jagte die Treppe
hinauf.
Hans Rots Tante war mit
ihrem Rollstuhl an den Esstisch gerückt worden und schaufelte sich gerade einen
großen Brocken, von dem weiße Soße troff, in den Mund.
»Milchrahmstrudel«,
sagte sie mit vollen Backen.
Liegt, wie es scheint,
in der Familie, diese Unart, dachte Fanni. Hans Rot schluckt auch nie, bevor er
spricht.
Ihr Blick wanderte von
den kauenden Kiefern abwärts, und wie immer, wenn sie Luises Aufmachung sah,
musste sie sich das Lachen verbeißen.
Luise trug einen
rosafarbenen Pulli mit Applikationen aus Silberpailletten. Über ihren Knien lag
eine rosa Häkeldecke; die Füße, die darunter hervorlugten, steckten in rosa
Pantöffelchen, deren oberer Rand mit rosa Federn verbrämt war.
Fanni hatte sich schon
ein paarmal gefragt, ob Luise dieses Faible für Rosa schon vor ihrem Unfall
gehabt hatte. Hatte sie in rosa Blüschen und rosa Schühchen ihre Gemüsebeete
umgegraben?
Rosa
Schürze und rosa Gummistiefel!
Ja, dachte Fanni, so
könnte man sich Luise bei der Arbeit vorstellen.
Hans Rots Tante hatte
die letzten zwanzig Jahre ein Häuschen im Schwarzwald ganz allein bewohnt und
so gut wie keinen Kontakt mit der Verwandtschaft gepflegt. Aus den dürftigen
Erzählungen ihres Mannes hatte Fanni gefolgert, dass Luise ihr Haus und ihren
Garten stets eigenhändig in Schuss gehalten hatte. Laut Hans hatte sie
persönlich die Hecke geschnitten, die ihr Grundstück einfasste, die Beete
umgegraben und sogar Malerarbeiten und alle möglichen Reparaturen ausgeführt.
Doch genau das war ihr
letztendlich zum Verhängnis geworden. Beim Reinigen der Dachrinne war sie
vergangenes Frühjahr von der Leiter gestürzt und hatte sich schwer verletzt.
Die Blessuren im Gesicht und die Prellungen der Rippen heilten zwar bald
wieder, aber Luises Beine waren gelähmt.
Und das würde auch so
bleiben, meinten die Ärzte im Krankenhaus trocken.
Als nächster Verwandter
Luises war Hans Rot von dem Unfall verständigt worden und umgehend nach
Freiburg gereist. Mangels besserer Alternativen hatte Luise inzwischen den
pragmatischen Entschluss gefasst, ihr Häuschen zu verkaufen, um von dem Erlös
die Kosten für ein gepflegtes Seniorenheim aufbringen zu können.
Offenbar hatte sie
Vertrauen zu Hans Rot gefasst, denn sie hatte ihn mit der Abwicklung des
Verkaufs beauftragt und kurz darauf erklärt, ein Seniorenheim in der Nähe von
Erlenweiler wählen zu wollen, damit er – so weit erforderlich – ihre Betreuung
übernehmen konnte.
Fanni musste zugeben,
dass es ihrem Mann gelungen war, die Tante komfortabel unterzubringen. Luise
bewohnte in der Katherinenresidenz ein kleines Apartment, das aus einem
Wohnzimmer mit Schlafnische, einem Badezimmer, einer winzigen Küche und einem
noch winzigeren Balkon bestand. Die meisten der antiken Möbel, die Luise zuvor
besessen hatte, waren zwar verkauft worden, doch der glänzende Mahagonitisch,
die Biedermeierkommode und noch ein paar seltene Stücke hatten in der Wohnung
Platz gefunden.
»Ausgezeichnet,
vorzüglich«, sagte Tante Luise mampfend. »Solltest du dem Hans mal vorsetzen,
würde ihm schmecken.«
»Hans mag keine
Mehlspeisen«, entgegnete Fanni.
Tante Luise winkte ab.
»Ich wette, Milchrahmstrudel würde er lieben. Du rollst eine leckere Füllung in
Strudelteig – Äpfel, Rosinen, gemahlene Nüsse oder vielleicht Kirschen, Honig,
gemahlene Mandeln –, praktizierst den Strudel in einen tiefen Schmortopf und
übergießt ihn großzügig mit Milch und Sahne. Vierzig Minuten in die Backröhre,
und fertig ist das Leibgericht.«
Sie kratzte den Teller
leer. »Ich hätte dich ja kosten lassen, aber meine Portion war wieder besonders
klein heute. Schwester Monika, die blöde Ziege, achtet kein bisschen auf die
Vorlieben ihrer Schäfchen. Roland ist da viel mehr auf Draht. Er bringt mir
immer die größte Portion vom Milchrahmstrudel – er sagt ja Milirahmstrudel dazu
– und die kleinste von den Kohlrouladen.«
Luise schüttelte sich,
als wolle sie den Gedanken an Kohlrouladen weit wegschleudern. »Roland ist auch
ein Schleckermaul, hat er mir neulich gestanden. Aber er selbst, sagt er, kann
überhaupt nicht kochen, nicht mal Rührei. Er holt sich seine Mahlzeiten bei
McDonald’s oder beim Türken.« Sie schnitt eine Grimasse. »Fast Food.«
»Hat Roland Becker heute
etwa dienstfrei?«, fragte Fanni aufgeschreckt.
Tante Luise sah sie
vorwurfsvoll an. »Der Junge ist schon eine
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