Saure Milch (German Edition)
ganze Weile nicht mehr bei mir
aufgetaucht.« Sie zog die Stirn in Falten. »Dreimal Milchrahmstrudel lang.«
»Wie? Was meinst du
damit?«, musste Fanni nachfragen.
»Ja, was gibt’s denn
daran nicht zu verstehen?«, erwiderte Tante Luise ungehalten. »Mittwochs
kriegen wir immer Milchrahmstrudel, oder Milirahmstrudel, wenn du so willst –
das wüsstest du, wenn du dir an deinem Besuchstag länger als vierzig Minuten
für mich Zeit nehmen würdest. Und heute hatte ich zum dritten Mal die
Kriegsration, weil es den Schwestern nämlich total schnuppe ist, was sie uns
Alten vorsetzen.«
Fanni musste schmunzeln.
Eventuelle
fortschreitende Lähmungserscheinungen hätten spätestens vor Tante Luises
Mundwerk erschrocken halt gemacht.
»Roland hat sich
vielleicht eine Zeit lang Urlaub genommen und kommt schon bald zurück«, sagte
Fanni beschwichtigend.
Als
Gespenst war er vorhin bereits da!
»Das hoffe ich«,
antwortete Tante Luise. »Ich mache mir nämlich ein bisschen Sorgen, dass Hanno
ihn geschasst hat. Aber wenn es so wäre, warum hört man dann nichts darüber?«,
fügte sie mehr zu sich selbst hinzu.
»Weshalb hätte Hanno das
denn tun sollen?«, erkundigte sich Fanni.
»Oho«, machte Tante
Luise. »Da gäbe es einen Haufen Gründe für unsern guten Pflegedienstleiter.«
Fanni wartete.
Bereitwillig begann
Luise an den Fingern aufzuzählen.
Daumen: »Roland kriecht
Hanno nicht in den Arsch, wie die Schwestern es machen. Die schmieren dem
Pflegedienstleiter Honig ums Maul und lassen ihn kein bisschen merken, dass sie
ihm dreimal täglich die Pest an den Hals wünschen.«
Zeigefinger: »Roland ist
bei uns Alten beliebt wie niemand sonst im ganzen Haus. Wenn er ins Zimmer
tritt, bleckt sogar die sieche Nagel ihr nacktes Zahnfleisch. Für Hanno hat
keiner von uns was übrig.«
Mittelfinger: »Roland
hat den Heimleiter schon ein paarmal auf Missstände im Pflegedienst
hingewiesen.«
Ringfinger: »Roland
versteht von Altenpflege und allem, was damit zusammenhängt, eine Menge mehr
als Hanno. Er hat eine bessere Ausbildung als die meisten hier. Hat schon im
Seniorenwohnpark in Landshut und in der Seniorenresidenz auf der
Wittelsbacherhöhe in Straubing gearbeitet.« Tante Luise machte mit dem kleinen
Finger winzige Seitwärtsbewegungen: »Und Roland ist auf Hannos Posten scharf.«
Himmel, dachte Fanni,
woher weiß sie das alles? Tante Luise kommt ohne Hilfe nicht mal aus dem
Zimmer, geschweige denn aus dem Haus.
Sie sah Luise wissend
lächeln. »Fannilein, wenn man hier nicht hinterm Mond leben will, muss man
hinhorchen – auf jedes Wort, jeden Tonfall, jede Klangfarbe.«
»Aber schon einfaches
Hinsehen«, erwiderte Fanni, »verrät mir, dass Erwin Hanno noch nicht alt genug
ist, um in den Ruhestand zu gehen.«
»Er ist erst
fünfundfünfzig«, antwortete Tante Luise prompt, »und daraus folgt, dass Hanno
zurückgestuft würde, falls es Roland gelänge, ihn zu verdrängen.« Sie lehnte
sich genüsslich zurück, als warte sie auf den Beginn eines besonders spannenden
Films.
»Doch so weit wollte es
Hanno nicht kommen lassen«, sagte Fanni gedankenverloren.
Tante Luise hob
schulmeisterlich den Zeigefinger. »Andererseits kann Hanno nicht einfach einen
Pfleger entlassen, ohne gute Gründe dafür anzuführen.«
Plötzlich tippte sie
sich an die Stirn. »Unsinn, Hanno kann überhaupt niemanden entlassen. Das ist
Sache der Heimleitung – und die will vermutlich sehr gute Gründe dafür
vorliegen haben.«
Es klopfte, und gleich
darauf trat eine Schwester ein. »Abendritual, Frau Rot«, sagte sie fröhlich.
»Katzenwäsche, Nachthemd, Schlaftablette.« Sie öffnete gerade die Tür zu Tante
Luises Badezimmer, da meldete sich ihr Piepser. »Frau Nagel scheint noch was zu
brauchen«, verkündete sie und eilte davon.
»Die Nagel macht’s nicht
mehr lang«, sagte Tante Luise geringschätzig. »Als sie vor etlichen Jahren nach
ihrem ersten Schlaganfall hierherkam, soll sie immer davon geredet haben, dass
sie bald wieder in ihr geliebtes Haus in einem Deggendorfer Nobelviertel
zurückkehren würde. Na ja, undenkbar war das damals vielleicht nicht. Bloß ist
es nie dazu gekommen. Und seit ich hier bin, geht es wirklich drastisch bergab
mit ihr: vor acht Monaten Oberschenkelhalsbruch – schlecht verheilt; kurz
darauf Verdacht auf Nierensteine; inzwischen schnell fortschreitende
Herzschwäche; und dann – vergangene Woche – der zweite Schlaganfall. Spätestens
zum nächsten Milchrahmstrudel liegt die Nagel in
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