Saure Milch (German Edition)
der Leichenkammer, darauf
wette ich.«
Luises Jargon wird von
Woche zu Woche derber, sagte sich Fanni im Stillen. Oder hat sie immer schon so
geredet, und es ist mir nur nicht aufgefallen?
Plötzlich kam ihr etwas
in den Sinn. »Wer ist eigentlich heute verstorben?«, fragte sie.
»Keiner«, antwortete
Tante Luise mit fester Stimme.
»Doch«, widersprach
Fanni, »heute Mittag muss jemand gestorben sein. Der Hausmeister war in großer
Eile, den Aussegnungsraum wieder …«
»Fannilein«, unterbrach
Tante Luise sie frostig, »wenn ich dir sage, dass heute keiner von den Insassen
des Altenheims über den Jordan gegangen ist, dann kannst du mir das getrost
glauben. Hier gibt niemand den Löffel ab, ohne dass ich umgehend davon erfahre.«
Luise reckte die Nase in die Luft, als könne sie es riechen, welches
Seniorenzimmer von Gevatter Tod demnächst heimgesucht werden würde.
Ich traue ihr zu, dass
sie das kann, dachte Fanni.
»Schieb mich schon mal
ins Badezimmer«, verlangte Luise. »Den Waschlappen kann ich mir selbst durchs
Gesicht ziehen, bis die Schwester mit der Nagel fertig ist. Und du machst am besten,
dass du nach Hause kommst. Höchste Zeit, deinem Mann das Abendbrot
vorzusetzen.«
Termin
längst verpasst!
Trotzdem Zeit zu gehen,
sagte sich Fanni und verabschiedete sich.
Vor Luises Tür bog sie
automatisch in Richtung Hintertreppe ab, doch dann blieb sie stehen.
Nicht heute, nein, heute
nicht mehr, summte es in ihrem Kopf.
Entschieden drehte sie
sich um und wandte sich dem Flur zu, der in die Haupttreppe mündete und über
diese ins Foyer führte.
Da
wirst du jetzt sowieso niemanden mehr antreffen, die Senioren sind bereits auf
dem Weg ins Bett und die Verwaltungsangestellten längst auf dem Weg nach Hause!
Fanni hastete die zwei
Stockwerke hinunter, passierte die beiden gipsernen Löwen, die den Aufgang
bewachten, warf einen missbilligenden Blick auf die verspiegelten, mit
Kunstblumen bestückten Kübel, die den Zugang zum Foyer markierten, und hielt
stracks auf die Voliere mit den nachgebildeten Vögeln zu, neben der sich die
Eingangstür befand.
Auf Höhe der Voliere
merkte sie, dass außer ihr noch jemand die Halle betreten haben musste, denn
ein synthetischer Kanarienvogel erzitterte im Luftzug einer zufallenden Tür.
Im nächsten Moment hörte
sie die gewohnt freundlich klingende Stimme von Herrn Müller. »Ah, Frau Rot.
Gut, Sie noch mal zu treffen. Hanno …« Der Heimleiter unterbrach sich, atmete
durch und sagte dann schmeichlerisch: »Wie geht es denn der Tante Ihres
Gatten?«
Fanni war bass erstaunt
darüber, dass Müller, der sie vorhin kaum wahrgenommen hatte, nun auf einmal
wusste, wen sie besucht hatte; und noch erstaunter war sie darüber, dass er
sich mit ihren Familienverhältnissen so genau auskannte. Die Verblüffung
brachte sie für einen kurzen Moment aus dem Konzept.
»Ja … danke … es geht …
die Beine halt«, stammelte sie, bis sie sich so weit gefasst hatte, um
geläufiger hinzufügen zu können: »Tante Luise fühlt sich recht wohl hier in der
Katherinenresidenz.«
»Das freut mich«,
erwiderte der Heimleiter. »Das freut mich außerordentlich. Herrn Benat, unserm
Berufsbetreuer und mir ist es nämlich das allerallergrößte Anliegen, dass sich
unsere Senioren hier wohlfühlen, dass sie ihren Lebensabend vollauf genießen.«
»Seniorenbetreuung
scheint Ihnen beiden ja sehr am Herzen zu liegen«, sagte Fanni daraufhin
geistlos.
»Ja, ganz
außerordentlich«, erwiderte Müller schwärmerisch. »Und ich darf sagen, dass
unser unermüdlicher Einsatz der Katherinenresidenz einen hervorragenden Ruf
verschafft hat. Wir können uns vor Anfragen nach Heimplätzen kaum retten, und
Dr. Benat werden laufend Berufsbetreuungen angetragen – in allen Seniorenheimen
der Stadt, besonders häufig aber in der Katherinenresidenz.«
Der Heimleiter hielt
Fanni die Tür auf, und sie trat auf die gepflasterte Allee, die zur Hauptstraße
führte.
Müller folgte ihr;
gemeinsam gingen sie unter den Kastanienbäumen entlang.
»Die Leidenschaft für
Ihre Arbeit beschert Ihnen offenbar einen langen Arbeitstag«, sagte Fanni.
Müller warf einen Blick
auf die Kirchturmuhr von St. Martin, die rechter Hand über die Dächer spitzte
und mehr erahnen als erkennen ließ, dass der kleine Zeiger auf sechs stand.
»Einen sehr langen. Ich werde heute sogar noch für ein paar Stunden in Dr.
Benats Kanzlei zu tun haben.«
»Er ist Rechtsanwalt«,
stellte Fanni fest und fragte sich im
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