Sax
Modefotograf, hatte er in gotischen Szenerien unter Werwölfen und Vampiren ein zweites Leben angefangen, und daß ihm ein Sargraub nicht nur virtuell begegnen sollte, war eine Chance, die er sich nicht entgehen ließ. Das Paar mietete einen Transporter, in dem es auf den Hinterhof der Leichenhalle vorfuhr. Sie hoben den Sarg vom Sockel, aber beim Manövrieren durch die Tür verlor Marybel das Gleichgewicht, und er stürzte ihr auf den Fuß. Das Gepolter rief den Beamten herbei, der die weinend Herumhinkende nicht einmal festzuhalten brauchte, bis die Polizei erschien und das Paar arretierte, das zusehen mußte, wie der falsche Mönch wieder in sein Kämmerchen geschafft wurde. Tim verlangte, wie aus Filmen geläufig, sofort einen Anwalt zu sprechen, und war so keck, gleich die Nummer seines obersten Chefs zu wählen. Moritz,
not amused
, kam im Taxi und fand Marybel außer Rand und Band, was sich als glücklicher Umstand erwies, denn damit untermauerte sie selbst den Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit. Nun, sie hatte ihren Liebsten verloren und stand unter Schock, während Tim keinerlei mildernde Umstände anführen konnte und von Moritz auf der Stelle gefeuert wurde. Das machte den Beamten Eindruck, sie hielten nur Tims Personalien fest und ließen ihn laufen, während sie die Haupttäterin, von Moritz eskortiert, selbst in die Psychiatrie fuhren, wo Moritz dem Stationsarzt das Nötigste erklärte. Sie blieb in der Klinik, wo endlich auch ihr Fuß behandelt wurde.
Was hatte sie mit Jacques gewollt? Aufbahren habe sie ihn wollen, im Haus «zum Eisernen Zeit», erklärte sie auf dem Revier. Zu Jacques gehöre eine
Wake
, mit Singen, Tanzen, Trinken, eine Festlichkeit, um ihn gemeinsam für die andere Welt zu rüsten. Die Beamten verstanden kein Wort. Aber Jacques brauche keine
Wake
mehr, fand Moritz gähnend auf dem Ledersofa des «Eckstein». Zwei Nächte lang habe er seine Hetz gehabt. Und auch die
Tenue
-Frage sei gelöst. Er gehe in Marybels Liebhaberanzug durchs Feuer – wenn er ihm noch passe; zu ändern sei er nicht mehr. Aber
darüber
die Kutte, als Pelerine für alle Fälle – weißt du noch, Huppert, wie wir sie als Kinder getragen haben? Allerdings – schwarz färben können wir die Kutte nicht mehr. Aber ich habe einen Trauerschleier besorgt, in den das Ganze gewickelt wird.
Eigentlich war das
meine
Kutte. Ich habe sie ihm geliehen, sagte Hubert.
Du siehst müde aus, sagte Moritz.
Aiaiaiai, summte Hubert statt aller Antwort.
Apapapapai, antwortete Moritz, es sterben ja so viele, warum gerade er?
Ich habe seinen Tod verpaßt, sagte Hubert.
Wer kein Handy hat, ist nicht mehr von dieser Welt, sagte Moritz. Ich verstehe dich, doch beklagen darfst du dich nicht.
An Jacques’ Grab sang Brel. «Jacques … Jacques!» war das letzte Wort, das der schon todkranke Chansonnier sich selbst nachseufzen ließ, aus sehnsüchtig-zurechtweisendem Frauenmund, um nur noch
Oui
antworten zu können, sein heiser lachendes, herzzerreißend verlegenes
Oui
.
Marybel stellte die CD ab und schluchzte öffentlich. Aus gegebenem Anlaß, auch beim Begräbnis seiner Mutter, hatte Achermann noch nie weinen können; Tränen kamen ihm nur unverhofft. Einmal hatte er mit Jacques ein Kreuzworträtsel gelöst, in dem BREL gefragt war: «Sterben auf den Marquisen – am Ende doch nicht». Trockenen Zuhörern näßte der Frühtau wenigstens die Schuhe ein. Marybel trug den linken Fuß im Gips und ging wie beschwingt an Krücken. Die philippinischen Frauen waren im Witwenschleier erschienen.
Die Anhöhe, zu der sie aus den Bussen zweihundert Meter aufsteigen mußten, war ein zum Waldfriedhof umgerüsteter Ausläufer des Greifenbergs. Am Fuß einer jungen Buche war ein kleiner Schacht in den Boden gegraben, der später mit dem Hügelchen daneben zuzuschütten war. Im Kreis standen vielleicht hundert Leute, die Mehrzahl weiblich und fast alle nicht mehr ganz jung;der Senior war Thomas Schinz, Vater des Verstorbenen, den Mara diesmal nicht zu stützen brauchte. Fritz Walder war zu sehen, inzwischen selbst Witwer, auch einige Studienkolleginnen der Anwälte. Sidonie war in den USA und hatte sich mit einem Bukett von 101 roten Rosen entschuldigt. Jacques’ wichtigste Klientel, die Erblasserinnen, fehlten naturgemäß. Viele Damen begegneten einander zum ersten Mal.
Zuerst sang LUZ ein Wiegenlied in Tagalog, ein Zeugnis musikalischer Unschuld. Wer nicht weinte oder tuschelte, gähnte verstohlen, denn es war noch früh am Tag. Die
Weitere Kostenlose Bücher