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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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erzählen hört, so hat der kleine Ritter ein bemerkenswertes Leben geführt. Was mag er nur versäumt haben, daß er keine Ruhe fand? Denn leider ist aktenkundig, daß dieser Bürger Münsterburgs, unser aller Mitbürger, sehr viel länger
nicht
gelebt als gelebt hat. Und dabei wollen wir ihm jetzt ein wenig zusehen – Sidonie hat sein Leben studiert, und ich möchte schwören, daß er mitten unter uns und auf seine Vorstellung gespannt ist. Papa, eben habe ich hinter dir etwas huschen sehen – spürst du kein eisiges Windchen? Kein frostiges Händchen?
    War anfangs noch ab und zu gekichert worden, hatte sich längst Befremdung ausgebreitet. Marybel hatte etwas die Arme geöffnet. Jacques betrachtete sie.
    Ich höre gerade, sagte Jacques, daß er sich im Anflug befindet. Marybel, wir müssen deine Fische vorübergehend vom Himmel nehmen. Wegen Flugsicherheit. Guten Geistern wären sie nicht im Wege, aber es könnte sein, daß Herr von Sax nicht ganz freundlich ist.
    Moritz hob die Stange aus der Halterung. Wohin? fragte er.
    Marybel ist bereit, sagte Jacques, sie kann die Fischlein hüten.
    Moritz senkte die Stange, so daß die ermatteten Windgeschöpfe in Marybels offenen Armen landeten. Und in diesem Augenblick verdunkelte sich die Terrasse. Dreimal klopfte es mit Macht gegen den Holzboden des Turms; dann wurde man auf ein Irrlicht aufmerksam, das über Sidonies Kopf erschienen war. Und während Jacques weiterredete, ließ es sich auf ihrer Stirn nieder, breitete sich auf ihrem Gesicht aus und verwandelte es zum Erschrecken. Es war erblaßt und hatte den Ausdruck lasziver Grausamkeit angenommen. Die gebleckten Lippen waren nicht mehr diejenigen Sidonies, und wo ihr Haar gewesen war, zeigte sich ein blanker Schädel, gespalten von einer tiefen Kluft. Die Augen glitzerten wie Eis. Der Körper stand in herausfordernder Bereitschaft. Jacques redete weiter.
    Als man über ein Jahrhundert nach dem Tod des Freiherrn seine Gruft öffnete, fand man seinen Leichnam dort unverändert so, wie man ihn hineingelegt hatte. Man baute ein Guckloch ins Grab, um ihn im Auge zu behalten. Nachtbuben aus dem Vorarlberg hielten ihn für einen Märtyrer des katholischen Glaubens, stahlen den Leichnam und schafften ihn über den Rhein, um ihn der verdienten Verehrung zuzuführen. Als das empörte Münsterburg den Leichnam zurückbekam, war er nicht wiederzuerkennen. Hände und Füße waren weg und ins Reliquiengeschäft abgewandert.
    Während Jacques sprach, begann der Körper auf dem Turm plastischer hervorzutreten und färbte sich rötlich, während das Gesicht an Helligkeit verlor, sein Ausdruck an Bosheit. Dann blendeten sich die Hände und Füße aus, Unterarme und Unterschenkel wurden unsichtbar; ein Rumpf schwebte auf der Bühne, immer nochmit weiblichen Merkmalen. Jetzt begannen ihn dunkelrote Strähnen zu überrieseln und flossen über Schultern, Brüste und Bauch; Jacques hatte sich abgewandt und sprach wie zu sich selbst.
    Die Reste des Freiherrn wurden nicht mehr in die Gruft gelegt, sondern in den Kirchturm gehängt und Wind und Wetter preisgegeben. Aus dem Wachsmann wurde ein schwarzer Ritter, mit dem man nicht nur Kinder erschrecken konnte. Aber auch als Mumie blieb der Freiherr auf seine Weise intakt. Sein drittes Nachleben dauert bis heute.
    Sidonie war wieder als weibliche Gestalt sichtbar geworden, doch über sie schob sich eine schemenhafte – das skelettierte Phantom des Todes – und begann zu tanzen.
    Also kein Ende, sagte Jacques. – Und mit einem Schlag war die Szene auf dem Holzturm erloschen, der Holzturm nur noch ein schwarzer Fleck, der sich der Iris als helles Negativ einbrannte.
    Ein kleines Nachspiel, sagte Jacques, ein Dialog zwischen Herrn Fries und mir. Sidonie wird ihn illustrieren, garantiert jugendfrei.
    Allmählich traten aus der Dunkelheit über dem Turm fünf helle Tupfen hervor und nahmen Gestalt an: zwei Füße, zwei Hände, ein Gesicht. Und in der Folge tanzten sich die sichtbaren Teile Sidonies gewissermaßen von ihrem Körper frei. Wie ein Vogelschwarm schossen die Lichtgeschöpfe ineinander und wieder so weit auseinander, als wären sie dem Körper endgültig entflogen. Sie begleiteten den Text wie eine selbständige Interpunktion. Manchmal flatterten die Füße in alle Lüfte, während die Hände dicht nebeneinander am Boden hockten wie verdrossene Kleintiere, und das Gesicht wandte sich staunend bald dem einen, bald dem andern Paar der zerstrittenen Geschöpfe zu. Kurz darauf bedeckten

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