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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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einstigen Rudolf-Minger-Saals war zur Wechselzone geworden für Männer mit embryonalen Greisengesichtern, die ihre Identität als Galerist, Intendant, Lyriker und Redakteur kaum noch erkennen ließen. Ein solches Gesicht trug er nun auch. Die Versuchspersonen aus dem Kulturbereich begrüßten einander nicht wie gewohnt. Viele blickten unruhig beiseite, als bereuten sie ihre Teilnahme bereits. Andere verpflegten sich im flachen Teil des Saals an einem rustikalen Buffet; der Betrieb hatte etwas von einer Sportschule mit Massenverköstigung. Die Namen der Anwesenden wurden aus dem Lautsprecher heruntergebetet, das Who’s who klang wie der Check einer Passagierliste. Sidonie wurde bei keiner Durchsage erwähnt. Die Kopflast des Helms war so sperrig, daß man ihn abgenommen hatte, aber nun erklang die Aufforderung, seinen Platz einzunehmen, zum dritten Mal. Man stieg in seine Grube, die persönliche
Picture Pit
, und wenn man sich ausstreckte, schien sie um einen zusammenzuwachsen, als wäre man in einen passenden Handschuh geschlüpft.
Setzen Sie den Helm auf – jetzt
. Moritz blickte durch den Sehschlitz nach den anderen; sie waren unsichtbar geworden. Darauf hatte man die Teilnehmer vorbereitet. Aber nicht darauf, daß sich der Helm, als wäre er ein lebendiges Geschöpf, an den Schädel schmiegte und ihn mit wechselndem Druck zu betasten begann, bis er einen optimalen Kontakt erreicht hatte.
    Gleichzeitig brach die bekannte Welt in seinem Kopf weg, und eine andere trat an ihre Stelle, die
zu genau
dieselbe Landschaft war, in der er sich eben niedergelassen hatte. Aber seit die anderen ausgeblendet waren, hatte er eine Rundsicht, als säße er auf einer Bergspitze – und sah doch immer noch den «Gugger» wie in natura vor sich, nur daß er jetzt, optisch kaum verzerrt, im Inneren einer riesigen Glaskugel zu liegen schien, die sich zu verfinstern und wie zögernd mit Sternen zu besetzen begann, in Konstellationen, die er noch nie gesehen hatte. Es hatte etwas von einem Trickfilm, als sie zu zwinkern begannen, als würden sie von der Stimme angehaucht,die nun von überall und nirgends her ins Gehirn drang. Es war die Stimme Numa Gauls, nicht mehr verhuscht und halb wegwerfend, sondern mit Nachdruck und getragen von Vollmacht.
    Ich bin, der ich nun mal bin, und darf euch durch unser Programm führen. Im Anfang war das Wort, das habt ihr schon irgendwo gehört. Ich aber sage euch: am Anfang war das Paßwort. Es lautet
– hier hörte man einen schrillen Pfeifton –
und öffnet heute ein Universum, in dem noch keiner gewesen ist. Und doch wird es euch bekannt vorkommen. Ihr werdet was erleben. Aber ich sage euch: fürchtet euch nicht. Zu allem, was euch begegnen kann, gibt es einen Schlüssel, und wir, die ungesehen hinter den Bildern stehen, haben mit Schlüsseln umgehen gelernt. Aus allem, in das ihr hineingeraten könntet, helfen wir euch auch wieder raus. Vorausgesetzt, ihr rührt euren Helm nicht an. Hände weg vom Helm!
    Erst aber haben wir ein kleines Geschenk für einen Mann, der hundert Jahre alt werden will. Zweimal tot, heute frischer denn je. Oder habe ich zuviel gesagt, Thomas?
    Man hörte ein längliches Greisenräuspern, dann sagte eine zitternde Stimme:
Sss-sch-schwerelosigkeit.
    Kennst du die Dame noch? Mit ihr fing alles an.
    Einer der Sterne zoomte heran und vergrößerte sich zum gerahmten Porträt einer jungen Frau. Der Kopf mit dem zu großen Kinn blickte nach links, sie trug das Haar, in dem ein Diadem prangte, zu einem losen Knoten geschürzt und war von einer Inschrift umlaufen: POST OFFICE – POSTAGE – TWO PENCE – MAURITIUS.
    Die blaue – die blaue –!
stammelte die Stimme des alten Schinz.
    Mauritius
, soufflierte die Stimme Gauls. –
Ganz recht. Queen Victoria, bald Kaiserin von Indien. Sie ist dein, Thomas. Sie gehört dir.
    Das Markenbild fuhr, sich riesenhaft vergrößernd, wie eine Fliegenklappe auf seine Betrachter zu. Dabei veränderten sich die Züge der Königin, sahen Frau Fanny Moser ähnlich, Jacques’ Mutter Chantal, Sidonie; aber dann lösten sie sich in ein Gestöber blauer Pixel auf, die im Schwarm umkehrten und am Horizont zu einer wabernden Oberfläche zusammenschossen, über der eine große Silbersonne aufging. Am Horizont zeichneten sich Unregelmäßigkeitenab, die sich näher rückend als vulkanische Inseln zu erkennen gaben. Und während sich weiße Palmenstrände zeigten, belebte Pfahlbausiedlungen, aus denen der Klang brüchiger Singstimmen herüberwehte,

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