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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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untersuchen, um nur ja keinen polizeistaatlichen Eindruck aufkommen zu lassen; die
Wiggles
-Kolonie galt als selbstverwaltet und war auch für sich selbst verantwortlich. Doch war die Sterblichkeit im Camp hoch, und seit der Flucht der vier vermehrten sich die Todesfälle unter ihren han-chinesischen Freunden, umgesiedelten Bauern des Jangtse-Tals, die durch das Dreischluchtenprojekt ihre Existenzgrundlage verloren hatten. Von ihren Gästen erfuhren die «Fabrikli»-Bewohner, daß die
Wiggles
ihren Export nach Europa für eine Art Vernichtungsaktion hielten. Unzufriedenenund Unruhigen sei als Versuchskaninchen eines physikalischen Experiments ein böses, doch unauffälliges Ende zugedacht. Das war stark übertrieben. Dennoch gab es beunruhigende Indizien in Gestalt zweier Todesfälle, deren Zeuge das «Fabrikli» wurde – aus nächster Nähe und gänzlich hilflos.
    Hu nämlich starb schon drei Tage nach seiner Flucht – die Beinwunde, die nicht erheblich schien, hatte ihn bisher gelähmt, jetzt zerstörte sie ihn in einer Nacht. Hohe Gaben von Antibiotika änderten nichts an einer allgemeinen Sepsis, die den ganzen Leib schwellen ließ und ihn abscheulich verfärbte. Sie mußten Handschuhe anziehen, als sie ihn im Rosengarten begruben, aber da Tövet einen guten Tag hatte, hörte man das erste Mal seit langer Zeit wieder seine Gitarre:
«I never died» said he, went on to organize. Went on to organize.
Und am folgenden Tag hatten sie schon den nächsten Toten: Tim.
    Marybels letzter Spielfreund lebte nicht im «Fabrikli». Moritz hatte ihm eine Stelle beim alten Schinz verschafft. Dieser war, nachdem der «Schwarze Garten» abgebrannt war, mit Mara in seine frühere Villa zurückgekehrt. Der neue Besitzer ließ ihn mietweise so lange darin wohnen, bis die von ihm eingereichte Abrißgenehmigung die Ämter durchlaufen hatte. Mara brauchte in dem zu großen Anwesen ein Mädchen für alles, und so geschah es mit Moritz’ Nachhilfe, daß sein arbeitsloser Korbflechter in dem Haus, in das er vor kurzem mit Marybel ein gebrochen war, nach dem Rechten sehen durfte. Er glaubte sich in Sicherheit, als ihn die Polizei mit einem Dolch in der Brust aus dem Rechen des oberen Wehrs zog, eine Woche nachdem er Moritz in Maras geliehenem BMW als Fluchthelfer für die Uigurin Rebiya gedient hatte.
    Von diesem Tag an war Moritz klar, daß sich das Land im Kriegszustand befand und daß sein Leben wagte, wer die Dinge beim Namen nannte. Also ging er weiterhin im «Gugger» aus und ein, als wüßte er von nichts. Aber er wußte jeden Augenblick, daß er sich auf den Stützpunkt einer feindlichen Macht begab, und überlegte sich bei jedem Schritt, ob er eine Spur hinterlassen oder verwischenmüsse. Daß die Verfolger diejenige ins «Fabrikli» noch nicht gefunden hatten, war eine Illusion. Aber Tövet war nicht bereit, drohenden Tatsachen seine Gelassenheit, ja auch nur eine einzige Gewohnheit zu opfern. Das «Fabrikli» blieb allezeit offen, das war der Schlüssel zu seinem guten Sinn. Aber die Achse des Bösen war kein Hirngespinst mehr.
    Im Mai 2013 meldete sich Moritz als Teilnehmer der
Ökolypse
– so die interne Bezeichnung – vom 24. September an und erhielt die Bewilligung dafür schon am nächsten Tag, mit zwei Unterschriften: Numa Gaul und Robert Wittwer.

29
24. September 2013. Tableau
    Der Countdown läuft. Schalten Sie jetzt alle elektronischen Geräte aus, sonst werden sie unbrauchbar. Was immer geschieht, verlassen Sie Ihren Sitz nicht. Solange die Vorstellung dauert, können in der Außenwelt bestimmte Veränderungen auftreten. Nehmen Sie den Helm nicht ab. Er bietet Ihnen Schutz und Sicherheit. Setzen Sie ihn auf – jetzt. In vier Minuten gehen die Lichter aus. Wir wünschen Ihnen viel Spaß.
    Ein Schauer lief durch die Naturbühne, die zum See hin geöffnet war, mit dem «Gugger» als Blickfang. Die Hügel hatten schon eingedunkelt, der Himmel zeigte noch durchsichtige Perlmuttfarben. Die Fachwerkhäuser lagen in schwacher Helligkeit, die etwas Übernatürliches hatte, denn die Sonne war untergegangen. Aber die Zuschauer-Mulde war ähnlich diskret beleuchtet und hätte ein Interieur sein können, wäre die Brise nicht gewesen, die über ein paar hundert Glatzen strich. Viele Köpfe waren wiederzuerkennen. Die Profile erfreuten sich öffentlicher Verbreitung auf Kulturseiten. Frauenköpfe waren an zwei Händen abzuzählen; Haar mußte ihnen wichtiger sein als das Erlebnis der Schwerelosigkeit. Moritz Asser hatte

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