Sax

geopfert. Von seinem Randplatz sah er zu, wie sich ein Beet von Eierköpfen in ein Gelege silbergrauer Kunstköpfe verwandelte. Dann setzte auch er den Helm auf.
    Fast wäre er nicht gekommen. Tövet hatte einen Schub gehabt, mit Nackenstarre, Sehstörungen, Krämpfen im rechten Bein und Gefühllosigkeit im anderen; er konnte sich nur auf Krücken bewegen und war schon am frühen Nachmittag erschöpft. Aber um neun Uhrwar er auferstanden und hatte die Belegschaft in der Spinnstube zum Deutschunterricht versammelt. Ihr müßt euch jederzeit allein ein Ticket nach Lörrach oder Mailand kaufen können, und dafür braucht ihr starke und schwache Adjektive. Die Belegschaft bestand aus Feng, Endili und Rebiya. Die wirksamste Fußfessel der
Wiggles
war ihre behördlich geförderte Sprachlosigkeit; darum war sie das erste, dem man im «Fabrikli» abhelfen mußte, auf Gegenseitigkeit. Tövet fand Chinesisch eine lebensverlängernde Medizin, hoffentlich wirksamer als Cortison. Die Flüchtlinge mußten das Nötigste an Deutsch lernen, unter Tövets Fuchtel, dann bekamen sie von Rosa Englisch zum Nachtisch. Sie waren im Dachstock des «Fabrikli» einquartiert, Rebiya und Endili hatten erstmals ein eigenes Nest, aber sie waren nicht um der lieben Liebe willen untergetaucht. Daran erinnerte sie Hus Grab. Schon in der dritten Nacht nach ihrem Einzug hatten sie es ausheben müssen und den Kollegen in die Erde gelassen, in ein Linnen gewickelt. Es gehörte zur Aussteuer von Tövets Mutter und war ungebraucht; eigentlich hatte er es für sich selbst bestimmt. Am Ende sah das Grab wie eine kleine Erweiterung des Rosengartens aus; Tövet hatte, statt eines Grabmals, die Wildschweinscheuche darauf eingepflanzt. Moritz erfuhr zum ersten Mal, daß sie ein Geschenk Marybels aus ihren Jahren als Stewardeß gewesen war. Als Vollstrecker ihres Testaments hatte er die Wohnung mit den Ikonen geräumt, mit Tim zusammen, der ihre Andenken geerbt hatte – mit Ausnahme der fliegenden Karpfen, die Moritz ins «Fabrikli» mitgebracht hatte. Nun war Tim ermordet, und sie flatterten auch zu seinem Gedächtnis im Wind.
    In der Hausgemeinschaft arbeiteten die Flüchtlinge nach Vermögen mit, nur mußten sie auf ein Gongzeichen jederzeit bereit sein, im Dachstock zu verschwinden. Glücklicherweise gab es zwei Zugänge, und auch der halbe Boden war noch geräumig genug, so daß man ihn für den ganzen halten konnte. Das Haus mit Scheune lag am Rand einer Talstufe, der bewaldete Hang begann erst weiter hinten. Ungesehen konnte man sich am Tage nicht nähern, und diegemeldeten Bewohner, Moritz, Karl und Rosa, konnten Besucher jederzeit mit Rücksicht auf Tövets Gesundheit fernhalten. Moritz hatte die Flüchtlinge vorsorglich mit Unterlagen für ein erfolgversprechendes Asylgesuch im EU-Raum ausgestattet, aber jetzt wollten sie gar nicht mehr dringend weg, und es breitete sich etwas wie Kampfbereitschaft aus:
no pasarán!
Karl machte sogar seine Ordonnanzwaffe scharf, mit der Taschenmunition, die nur im Notfall angegriffen werden durfte.
    Am 22. September hatte es Tövet die Sprache verschlagen, und Moritz war entschlossen, die Teilnahme an der
Ökolypse
abzusagen. Aber am Vormittag des 23. fuhr ein Kurier auf einem Motorrad vor, und Moritz quittierte den Empfang eines Briefumschlags, dessen Inhalt nur aus einem handgeschriebenen Kassiber bestand:
    Lieber Moritz, wir sehen uns am
24.
auf dem «Gugger». Laß mich nicht im Stich. S.
    Sidonies Handschrift konnte eine Falle sein. Tövet sprach wieder, stockend, doch bestimmt: Sidonie ist in Gefahr. Geh hin. Du mußt.
    Als Moritz unter Rosas Rasiermesser hervorkam und sich im Spiegel betrachtete, sagte er erschüttert: das bin ich nicht.
    Nimm das Bild von Herbert mit, sagte sie, dann weißt du, wie ein Kämpfer aussieht.
    Der Bild war ein Talisman, seit Moritz wußte, daß der 1942 hingerichtete Herbert Baum ein Freund seiner Mutter gewesen war und ihr die Ausreise aus Berlin ermöglicht hatte. Sonst hätte es Moritz nie gegeben. Baums Sohn war er nicht, aber er hatte seine Handschrift geerbt.
    Als er nachmittags auf dem «Gugger» eintraf, empfing ihn Wittwer mit der Bemerkung, man habe ihn schon zum Mittagessen erwartet. Schwerelosigkeit – dafür müsse man etwas im Magen haben, und Lamm sei genau das richtige.
    Lamm mit Minze. Sie haben etwas verpaßt.
    Ich esse kein Kinderfleisch, Herr Wittwer.
    Er dachte nicht daran, Wittwer nach Sidonie zu fragen, und nahm Helm und Anzug in Empfang. Die Tribüne des