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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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den alten Schinz, und unter den Propheten im Schlapphut, wenn ihn nicht alles täuscht, sich selbst. Sein Ebenbild ignoriert ihn. Es steht neben dem gelehrten Barbarengesicht Numa Gauls, und tatsächlich bewegt es die Lippen, als dieser wieder aus dem elektronischen Nirgendwo zu sprechen anfängt.
    Dies ist der Altar von Gent, in der Kathedrale St. Bavo – alles dreht sich um die Anbetung des Lamms, von dem Sie, liebe Freunde, heute mittag leider nur die Beine übriggelassen haben. Das
Gigot d’agneau à la menthe
war zu unwiderstehlich. Aber die Beine stehen auch ohne Leib – ein Wunder! Wollt ihr’s anbeten? Nur hereinspaziert – alle ins Bild, wenn ich bitten darf! Habt ihr euch selbst schon gefunden? Es haben sich noch ein paar Überläufer ins Bild geschlichen, die schnell die Seiten gewechselt haben – ihr versteht, was ich meine. Aber was der Dichter von Engeln mutmaßt, gilt auch von der Kunst –
sie weiß oft nicht, ob sie unter Lebenden geht oder Toten.
Es kümmert sie nicht – nichts auf der Welt kümmert sie nach Recht und Verdienst. Das ist nicht der Bonus der Unsterblichkeit, liebe Freunde. Es ist eine Augenschwäche der Kunst. Sie ist blind für den Tod.
    Das Auditorium war erstarrt. Natürlich hatte sich niemand gerührt, als sie die Stimme aufgefordert hatte, ins Bild zu kommen.
Denn es schien nicht ganz unmöglich
, doch unabsehbar in den Folgen. Es ging ein eisiger Hauch von den Figuren aus. Aber sie waren nicht
wie
lebend. Sie lebten, auf ihre Art, nur war sie noch nicht dagewesen. Moritz war erschrocken, als er sich selbst unter ihnen erkannte, aber was hätte er sich gedacht, wenn er gefehlt hätte?
    Dies war Huberts Bild
, sagte die Stimme,
Hubert van Eyck, geboren nach
1360
und gestorben – jedenfalls: begraben – 1426 in Gent. Das Bildist aber 1432 datiert. Vollendet, sagen wir: fertiggemalt hat es sein Bruder Jan, von beiden nicht nur der berühmte, sondern der allein bekannte. Denn von Hubert ist kein einziges Werk gesichert, und manche haben schon bezweifelt, ob er überhaupt existiert hat.
    In diesem Augenblick war ganz links eine Spur von Bewegung festzustellen. Ein Mann im roten pelzbesetzten Kleid mit langen Ärmeln kniete plötzlich am Rande mit gefalteten Händen, den Blick auf den Betrachter gerichtet. Es war Hubert Achermann, wie er leibte und lebte. Doch worum bat er? Was wünschte er sich?
    Die Stimme Gauls war zum Flüstern geworden. Sie sagte:
wer Hubert vermißt hat, kann ihn jetzt bei der Andacht sehen, und wenn er ausgebetet hat, könnt ihr ihn ansprechen. Fragt ihn, was ihr immer schon wissen wolltet.
    Das Schweigen, das dieser Einladung folgte, war tief. Hubert Achermann war in keine Andacht vertieft. Er bat um Gehör, beschwörend, in lautloser Dringlichkeit.
    Fragt ihn, ziert euch nicht! Es könnte die Chance ewigen Lebens sein!
    Die Stille diesseits des Bildes mußte so tief geworden sein wie die Stille im Bild.
    Ihr laßt Hubert allein
, fuhr Gauls Stimme wie achselzuckend fort,
auch gut. Das kennt er schon. Es tut dem Menschen aber nicht gut, daß er allein sei. Gott tat es auch nicht gut, sonst hätte er den Menschen nicht erschaffen. Er hat ihm an die Seite gelegt – oder von seiner Seite genommen –, wovon er geträumt hat: die Menschin. Er hätte sich von ihr kein Bild machen können, das hat Gott für ihn besorgt. Aber als sie da war, siehe da, da war sie auch kein Bild, so wenig wie er selbst. Huberts Menschin war ihr ganz eigener Mensch, seht sie euch an. Ecce femina. Macht euch ein Bild von ihr.
    Und jetzt kniete, am anderen Ende des Tableaus, in genauer Symmetrie zur Figur Huberts eine andere, weibliche, unter einer weißen Haube und im roten Oberkleid mit lindgrünem Unterfutter. Die Hände waren ebenfalls gefaltet, aber das Gesicht war leer, ein durchsichtiges Fenster.
    Eine halbe Sache, lückenhaft, wie Kleider so sind. Das sind die Lücken,in welche die Begierde springt und die der Traum nicht füllen kann. Wie waren wir denn mal gedacht, Hubert? Mal uns Nägel mit Köpfen. Das erste Menschenpaar, bitte. Die wahren Stellvertreter Gottes. Die schönen Lückenbüßer seiner Einsamkeit.
    Die knienden Figuren, Hubert und die unbekannte Frau, wurden langsam, wie zögernd überblendet, dabei schienen sie aufzustehen, sich zu verjüngen, die Kleider fallen zu lassen. Schließlich stand das erste Menschenpaar im Glanz tiefer Vergangenheit vor einem pechschwarzen Hintergrund, der die Leiber ausstellte, als wären sie auf Nadeln gespießt.
    Sie sind es

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