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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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nicht weit genug gegangen war. Das lesbische Paar hätte es noch bunter treiben dürfen, aber dann hätte man gern seine Steinigung gesehen. Schieß aber habe die Beziehung zum Christentum vermißt. Er wünschte sich den Römerbrief in 4-D, höhnte Gaul, aber Asser sah die Angst in seinen Augen. Wo blieb Sidonie? Gaul hatte keine Patronin mehr. Und die Welt der Spiele, die er anzetteln half, nahm sich ernst und ertrug gerade von ihren Erfindern keinen Spaß. Sind Sie sicher, daß Sidonie noch am Leben ist? hatte Moritz Asser gefragt. Gaul erbleichte. – Sind Sie verrückt? Sie werden ihr im September begegnen, wenn nicht alles trügt. – Und wenn alles trügt? fragte Asser. – Sie wundern sich über unsere Pressepolitik, sagteGaul. – Keine Sorge, wir machen es wie versprochen, das Ende der Welt am 24. September. Aber nicht mehr für jedermann. Wir laden individuell ein – Leute, die Zweideutigkeit gewohnt sind. Gaul nannte eine Reihe von Namen, die zur Kulturszene des Landes gehörten. Sie waren Schieß bisher nicht grün gewesen. Gaul lachte. Sie ahnen nicht, wie wohlfeil die Leute zu haben sind – wenn nur ihr Name genannt wird. Schieß fühlte sich in seiner Geringschätzung bestätigt, er hatte keinen Gegner mehr. Begann jetzt die Langeweile der Macht?
    Diesen Eindruck hatte man im «Fabrikli» nicht. Rosa, die Moritz – wie sich ihr Freund Karl ausdrückte – «nach St. Helena» gefolgt war, beschränkte sich nicht auf die Pflege Tövets – was er nicht geduldet hätte. Die Investmentbankerin las das «Kapital», und da Lehren die intensivste Form des Lernens ist, hatte sie eine kleine Sprachschule eröffnet, in der sie ihr Chinesisch an den Mann brachte. Moritz liebte die revolutionäre Unschuld des Paars, die eben noch flexible Finanzhaie gewesen waren und gerade anfingen, an die List der Vernunft zu glauben, als ihm auch dieser Glaube abhanden gekommen war. Wenn Tövet bei Rosa Privatstunden nahm, setzte sich Moritz dazu und lernte mit.
    Dafür gab es auch einen konkreten Anlaß. Moritz hatte Zutritt zum Camp der
Wiggles
und aß regelmäßig in ihrer Kantine, dem «Golden Dragon», zu Mittag; dabei konnte er anwenden, was er bei Rosa gelernt hatte, wenn auch in engen Grenzen. Die
Wiggles
sollten nur ihre eigene Sprache oder Chinesisch sprechen, damit sie im Gastland nicht Fuß faßten. Da sie aber fast ausnahmslos in die USA auszuwandern wünschten, hatten sie sich auch mehr oder minder heimlich Englisch angeeignet und praktizierten es mit dem Mittagsgast. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, Moritz könne kein Spitzel sein, wurde er zuerst zum Vertrauten eines jungen Uigurenpaars, das in der Küche arbeitete, und dann zu seinem Fluchthelfer. Eines Tages im Juli nämlich fehlte Endili, der Mann, und Rebiya blickte Asser mit bestürzten Augen an.
Please want me. Let’s go out.
Ihr Blick verbot, Fragen zu stellen, und da es nichtungewöhnlich war, daß sich «Gugger»-Kader
Wiggle
-Frauen ausliehen, folgte sie ihm – oder er ihr – ohne Aufsehen aus dem Lager in den nahen Wald. Doch sie zog ihn immer weiter, bis zu einem Dickicht in der Nähe des Baumfriedhofs, wo sich Endili und zwei Chinesen versteckt hielten. Sie waren nicht weitergekommen, weil einer von ihnen auf der nächtlichen Flucht verwundet worden war. Moritz telefonierte Karl aus dem «Fabrikli» mit dem Geländewagen herbei, der die Flüchtlinge aufnahm, bis auf Rebiya, mit der Moritz einen geordneten Rückzug ins Lager antrat, um die Wächter in Sicherheit zu wiegen. Doch hatte man unterwegs den Ort vereinbart, wo sie nächste Nacht abgeholt wurde. Diesmal war es Tim, der das Fluchtfahrzeug steuerte, mit dem auch Rebiya in Sicherheit gebracht wurde, das heißt: ins «Fabrikli», wo die vier Flüchtlinge Unterschlupf fanden, bis Hu wiederhergestellt war und sie die rettende – inzwischen wieder bewachte – EU-Grenze erreichen konnten.
    Der rechtliche Status des
Wiggle
-Camps war eigenartig. Es durfte kein Gefangenenlager sein und nicht einmal wie ein Arbeitslager aussehen; die Verwaltung stattete es mit den Merkmalen freien Verkehrs aus und gewährleistete nur, daß kein solcher stattfand, weil die Sprachbarriere intakt blieb. Dennoch gab es Wächter, ein malaiisches Korps, die als Unterhaltungstruppe auftraten und sich auf atemberaubende Nummern mit Messern und Dolchen verstanden; wenn sie hie und da in einem toten
Wiggle
gefunden wurden, war von einem Disziplinarverstoß die Rede. Wittwer pflegte solche Fälle nicht zu

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