Sax
klettern. Je tapferer er war, desto schneller werde die Mutter wieder gesund. Die Szenen in der Nacht, die Schreie, das lange leise Weinen. Einmal war sie dem Vater mit dem Messer nachgelaufen. Wenn sie nicht da war, konnte man ungestört für sie beten, das tat der Pfarrer auch. Hubert war ja sein liebster Ministrant.
Was liest du gerade?
Die Lebensgeschichte des Franceso von Assisi.
Des heiligen Franz? Sehr schön. Aber verstehst du es denn schon?
Das Buch hieß «Francesco und Chiara». Es war eine Liebesgeschichte. Sie wollte zu Ende gelesen sein.
Die Ferienkolonie wurde von Herrn und Frau Anderhub geleitet. Sie waren immer streng und lustig. Er fürchtete sie. Morgen wollte man zu einer Wanderung aufbrechen und zum ersten Mal
klettern
. Hubert hatte gebetet, Gott möge ihn krank werden lassen. Aber vor dem Frühstück hatte ihn Frau Anderhub beiseite genommen. Hubert, du mußt leider nach Hause. Ich packe deine Sachen, dann fahren wir zusammen.
Im Zug erklärte ihm Frau Anderhub, daß seine Mutter plötzlich gestorben sei.
Er durfte sie noch einmal sehen. Sie lag aufgebahrt in der Sakristei. Aber er sah nur ihr Gesicht, denn ihr Kopf war verdeckt wie bei einer Klosterfrau. Die Augen waren zu, das linke schwarz unterlaufen. Aber ihre Lippen schienen zu lächeln. Dieses Gesicht machte Hubert stumm. Hochwürden legte die Hand auf den Arm des Vaters, der von Schluchzen geschüttelt war, aber es hörte sich an wie entsetzliches Gelächter.
Die Totenmesse, der Sarg, Berge von Blumen; sein Vater und er, die Verwandtschaft in Schwarz, das offene Grab. Er machte sich fest wie Stein und kehrte zu seinem Buch zurück, um darin zu verschwinden.
Seine Mutter war auf den Kirchturm gestiegen. Der Nachtwächter der Kantonalbank hatte sie um halb fünf Uhr morgens gefunden und den Vater geholt, der schon in der Backstube stand. Sie war schon oft mitten in der Nacht aufgestanden. Die Eltern hatten kein gemeinsames Schlafzimmer mehr.
Sonst hätte keins von beiden Ruhe gehabt.
Anderntags hätte sie ins Heim zurückkehren müssen, wenn sie nicht gestorben wäre. Hubert verstand sie. Vater erzählte dies und das, wenn Hubert in den Ferien aus dem Internat nach Hause kam. Er hatte sein Zimmer behalten dürfen, als der Vater eine neue Familie hatte. Einmal nahm er Hubert zu einer Verbandssitzung nach Münsterburg mit. Hubert war fünfzehn, sie hatten ein Zimmer in einem Hotel, jeder für sich, und am nächsten Tag, einem schönen Herbstsonntag, besuchten sie die kleine Stadt am oberen See. Am Abend saßen sie auf der Mauer unter dem Kapuzinerkloster und betrachteten den Sonnenuntergang. Die Ufer lagen im Dunst, die Seefläche wirkte unbegrenzt.
Sie wollte einfach nicht mehr. Niemand hätte sie halten können.
Woher hatte sie die Schlüssel zum Turm?
Ihr Onkel war Sigrist, und die Glockenstube war ihr Lieblingsplatz.Wenn sie jemanden mochte, hat sie ihn hinaufgelassen. Es war auch eine Mutprobe. Der Raum hatte kein Geländer. Und der Glockenschlag ging einem durch und durch, da konnte man sich lange die Ohren zuhalten.
Bist du auch oben gewesen?
Nach einem Pfänderspiel, am Ende des letzten Schuljahrs. Wir feierten in der «Traube», und sie war mir einen Kuß in der Glockenstube schuldig. Später sind wir immer wieder hinaufgegangen. Wir haben uns auf dem Turm verlobt.
Ist sie schon früher immer traurig gewesen?
Nein. Darum schämte sie sich ja so. Es war eben diese Depression.
Einen Schlüssel zum Turm hatte sie in die Ehe mitgenommen und zwischen ihrer Wäsche versteckt.
Nach einer Weile sagte er: Sie hätte dich so gern liebgehabt. Sie wisse nur nicht mehr, wie das gehe. Sie habe sich vom Liebhaben viel zuviel erwartet, darum habe sie es nicht richtig kennengelernt. Aber dafür dürften wir nicht büßen. Sie meinte dich und mich.
An jenem Abend am See hatte Hubert den Entschluß gefaßt, Priester zu werden.
Zwei Jahre später hatte er wieder an der Ufermauer gesessen, diesmal allein. Und wieder war er fest wie Stein.
Er war ein vorbildlicher Priesterschüler gewesen, das hatte ihm der Bischof beim Abschied bestätigt. Er war nur nicht richtig gewesen.
Woran zweifeln Sie denn? An Gottes Gnade? Genau dafür haben wir sie nötig.
Ich weiß es nicht.
Mutters Antwort. Aber er war gar nicht richtig verzweifelt.
Ich habe mir Ihr Motiv, Priester zu werden, immer so zurechtgelegt: Sie tun es für Ihre Familie, sagte der Bischof.
Wir waren keine Familie. Jetzt hat mein Vater eine. Und geniert sich, er fühlt sich
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