Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
mehr.
    Es gibt wenig zu sagen, lächelte Hubert geniert, ich habe damals für meine Oberen einen kleinen Aufsatz über Philoktet geschrieben, und den haben sie mir auszureden versucht. Für mich war Philoktet kein Bild der Sündhaftigkeit, auch kein armer Vetter des Mannes am Kreuz. Ein gewöhnlicher Mensch, den Schmerz und Einsamkeit verrückt gemacht haben.
    Und was folgte daraus? fragte Moritz.
    Eben nichts, und das hat den Professor gestört. Ich habe ihm zu viel offengelassen. Und für mich ist es immer noch offen.
    Das größte an diesem Philoktet, sagte Jacques, war doch, wie er heulen konnte.
Aiaiaiai! Apapapapai! Papa papa papa papai!
    Ein Gruppe Nachtwanderer war stehengeblieben, drei junge Damen und ein älterer Mann. Dieser fragte vorsichtig:
Does he need help?
    Ask
him, sagte Moritz.
    Oh yes
, sagte Jacques mit Grabesstimme,
I need help. Help me right away! I need all the help I can get!
    Die Touristen sahen einander an, lächelten betreten und gingen zögernd weiter.
    Und wann heult er richtig los? setzte Jacques fort, genau dann,wenn alles schon geritzt ist. Der Sohn Achills hat ihm versprochen: nach Hause geht’s. Stink, soviel wie du willst, wir nehmen dich mit. Und was tut er? Freut er sich wie ein Schneekönig? Er heult zum Steinerweichen.
    Weil sie ihm sein Liebstes nehmen wollen, sagte Moritz. – Seinen Schmerz.
    Achermann zitierte: «
Wer aber starr beharrt in selbstgewähltem Leid / Wie du, der hat kein Recht mehr zu erwarten, daß / Für ihn noch jemand Nachsicht oder Mitleid hat.»
    Voilà
, sagte Moritz.
    Was seid ihr für Banausen, sagte Jacques.
    Eine Stunde später saßen sie immer noch, immer weniger nüchtern, und Jacques schon ausgesprochen betrunken. Ein Name wie «Neoptolemos» verlangte zuviel von seiner Zunge. Er rüttelte an Huberts Arm und schrie: Bist du da? Bist du zufällig, ausnahmsweise, richtig da, Neo-poplius? Findest nichts mehr zum Instrumetallisieren, hast den Bogen raus, wie? Glaubt ihr, ihr kriegt mich? brüllte er, und zum verschlossenen Lokal hinüber: Zahlen! Oder ich zahle mit Blut!
    Das wollen die Götter nicht, sagte Moritz.
    Was weißt du von Göttern, tiefgefrorener Leninist, schnaubte Jacques und versuchte aufzustehen.
    Fragen wir sie doch selbst, sagte Moritz, der Weingott hat jederzeit Sprechstunde.
    Er hielt den gestikulierenden Arm Jacques’ fest und legte ihn sich um die Schulter; Hubert hakte sich in den andern ein. So standen sie fürs erste und konnten wagen, sich zu bewegen. Manchmal brachte sie Jacques zum Stehen. Wohin? sang er mit schönem Baß, dahin! dahin! dahin, o mein Geliebter, laß uns ziehn! Und ließ sich selbst weiterziehen. Fast im Gleichschritt gingen sie den Berg hinunter, an geschlossenen Souvenirläden vorbei, nach rechts in die auch nach Mitternacht noch belebte
Dionisiou Areopagou
. Vor ihnen die Akropolis, über der ein schiefer Sichelmond hing. Hinter derMauerwand zeichnete sich der Giebel des Parthenons ab wie ein lückenhaftes Gebiß.
    Zusammen erreichten sie den Eingang zum Dionysostheater und gelangten durch Baum- und Steingruppen ins Innere. In der der Mitte der kreisrunden Arena blieben sie stehen und hielten einander immer noch fest. Dann aber ließen sie los, traten zurück, breiteten die Arme aus wie Kormorane, die ihre Flügel trocknen, und rückten wieder zusammen, bis jeder den Unterarm des andern bis zum Ellbogen zu fassen bekam. Langsam, doch gleichzeitig begannen sie sich so weit vorzubeugen, daß jeder hätte fallen müssen, wenn ihn der Ring der Arme nicht gehalten hätte. Sie senkten die Köpfe, bis sie sich berührten, und ihre Augen hafteten auf dem Mittelpunkt des Kreises; so glichen sie Eishockeyspielern, die das Time-out für eine Absprache nützen. Aber sie wiegten sich in Schweigen.
    Wie auf ein Zeichen stießen sie sich gleichzeitig voneinander ab und standen wieder im Gleichgewicht, oder beinahe. Dann streckten sie die Arme vor sich hin und legten ihre sechs Hände zusammen.
    Schon am nächsten Morgen hätte keiner mehr sagen können, was sie im nächtlichen Theater beschworen hatten. Doch von jener Nacht an blieb ihre Verbindung unauflöslich.
    Damals wurden sie Achermann, Asser & Schinz.

4
7. September 1970. Dämmerung
    Das Kloster lehnte an der Seeseite des Burghügels, fast an der Spitze, ein Bollwerk gegen die Reformation. Zum Ufer mußte Achermann durch die noch immer wohlbekannte Treppe absteigen. Auf dem ersten Absatz kam er am vergitterten Schaubild des Gekreuzigten vorbei. Der Totenkopf

Weitere Kostenlose Bücher