Sax
nur das entfernte Ende der Dachwohnung in Frage kam, war schon mehr als deutlich, was sie zu bedeuten hatten. Jacques feierte den Einzug in die neuen Räume auf seine Art. Das gedehnte Singen einer Frauenstimme, der Takt, in dem sie abbrach und wiederkehrte, schloß unmittelbar an Erinnerungen auf der Ufermauer an. Nicht schon wieder! hätte Achermann beinahe laut gesagt und lauschte doch gespannt wider Willen. Endlich wurde es still. Hubert vergegenwärtigte sich Reinholds Mandat und zog einen Block aus der Schublade. Er dachte leichter, wenn er dazu zeichnete; zu schreiben begann er dann von selbst.
Wie ließ sich Dörigs Aktivlegitimation zu seiner Klage begründen? Warum sollte der trotzkistische Unternehmer vom Mißbrauch eines christlichen Symbols – diesen einmal vorausgesetzt – persönlich betroffen sein? Gar in seiner Persönlichkeitssphäre verletzt? Religiöse Überzeugungen konnte er ja wohl nicht ins Feld führen. Er setzte sich für ein Rechtsgut ein, das allgemeine Geltung beanspruchte – besaß es sie auch? Oder nur als Kulturgut? Aber wie soll ein solches einklagbar sein, wenn …
Ein Schrei, diesmal schrill und durchdringend. Als er in den Korridor hinaustrat, stand eine Frau vor ihm. Marybel, nackt, die Augen vor Entsetzen geweitet.
Er stirbt!
Mit ein paar Schritten war Hubert in Jacques’ Zimmer. Er lag bäuchlings auf dem Fußboden. Hubert drehte ihn zur Seite, dann auf den Rücken. Jacques war fahl und hatte die Augen geschlossen. Mit dem Ohr auf der Brust fand Hubert keinen Puls, wohl aber am Handgelenk, unglaublich schleppend. Er stemmte Jacques’ Oberkörper an der Bettwand hoch und schlug ihn auf beide Wangen, während Marybel ihr Gewicht gegen seine Brust warf, immer wieder. Plötzlich schlug er die Augen auf und packte ihre Hände. – Was ist los?
Bist du da? rief Marybel. Jacques! Jacques!
Wo soll ich sein? sagte er. – Und Hubert ist ja auch da. Bin eingeschlafen.Marybel, so was! Du bist die erste Frau, mit der ich
geschlafen
habe!
Jacques! stieß sie hervor, dann ließ sie den Tränen freien Lauf.
Wir brauchen einen Arzt, Jacques, sagte Hubert.
Ach, der weiß es schon. Mein Herz hat einen kleinen Fehler. Ich habe viel größere und lebe noch. Schatz, beruhige dich doch.
Er nahm sie in die Arme, und sie lag schluchzend an seiner Schulter.
Ich will aufstehen, sagte er, zog sich am Bett hoch, stand und zitterte. – Besuch, und wir haben nichts an. Wo bleibt unser Anstand, Marybel?
Sie holte Frotteetücher aus dem anstoßenden Badezimmer; eines schlug sie sich um den Leib, das andere über Jacques’ Schulter. Und schon war er ein Herr.
Da können wir ja gleich was besprechen, Hupp. Wir brauchen ein Sekretariat. Hier steht es vor dir, wenn auch nicht im Dienstanzug, aber das sind Äußerlichkeiten. Wenn du uns zufällig gehört haben solltest: das war ein Anstellungsgespräch.
Jacques, sagte Hubert, das muß erst besprochen sein.
Darum bespreche ich es mit dir. Mit Moritz ist es besprochen.
Er ist einverstanden?
Überglücklich. Ich habe schon zwei Klienten. Ich brauche Hilfe. Und den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.
Und wo soll sie arbeiten? fragte Hubert.
Leu macht ein Zimmer frei, in der vierten Etage – er braucht es nicht, und da ist sie ungestört. Natürlich arbeitet sie für uns alle – nicht wahr, Marybel? Ihre Arbeitskraft ist teilbar, nur ihre Seele nicht.
5
1946 –1970. Vorleben eines Engels
Marybel, getauft Anne Marie, war das elfte Kind ihrer Eltern und das achte lebende. Sie betrieben in ihrem Walliser Zweihundertseelendorf ein Geschäft, das man damals noch einen Kramladen nannte und in dem von der Karrensalbe bis zum Klistier alles zum Überleben Notwendige zu kaufen war. Verhütungsmittel führte der Vater nicht, auch wenn ihm ihr Mangel einst zum Schicksal geworden war, denn er hatte die Frau, die er geschwängert haben sollte, heiraten müssen. Aber die Serviertochter im «Simplon» war eine Schönheit, und ihre Verehrer blieben Kunden, als sie eine tüchtige Geschäftsfrau geworden war, wohl auch eine brave Ehefrau. Jedenfalls gebar sie Jahr um Jahr ein Kind, von denen keines aus der im Tal vorherrschenden Art schlug, die, je nach Gesichtspunkt, als erstaunlich oder erschreckend homogen beschrieben wird. Es blieb gewissermaßen alles in der Familie. Tüchtige Nachkommen wechselten mit sogenannten Gotteskindern, und wenn sie Glück hatten, vertauschten sie die Wiege früh mit dem Särglein und wurden dem wahren Vater in die Hände
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