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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Hinterhöfen Lüttichs einer anderen Verpflichtung bewußt geworden und hatte zugleich die Hoffnung verloren, sie je abzutragen. Doch für Pascal war Hoffnungslosigkeit selbstverständlich und keine Entschuldigung. Seine Arbeit machte ihmVergnügen. Für ihn waren die Elenden nicht nur Opfer, sondern seine Oberen und Lehrer. Hubert sah, daß ihre Lage jeder Beschreibung spottete, dennoch kamen sie ihm lebendiger vor, als er je gewesen war, und auch fröhlicher. Mit Mitleid war den Unterkünften, die er betrat, nicht beizukommen, noch weniger mit schlechtem Gewissen. Für dieses mochte der reiche Jüngling Hubert Gründe haben, doch sie waren vergleichsweise privat und trugen nichts zu einer veränderten Welt bei, waren vielmehr Teil der gefallenen. Ja, es gab eine Art zu sein, die fast ein Verbrechen war, doch die satte Bürgerlichkeit, die ihm auf der Schauseite der Bilder entgegenstrahlte, war nur ihr vordergründiger Ausdruck. Die Anlage dazu reichte weiter zurück, vielleicht bis in den Kern der Schöpfung.
    Maimonides, der «Führer der Unschlüssigen», wurde Arzt, um Philosoph zu bleiben. Achermanns Medizin war das Recht, und Pascal bestärkte ihn darin. Gerechtigkeit brauchst du gar nicht erst zu suchen; vielleicht findet sie dich auch so. Du weißt ja, was passiert, wenn einer dahinterkommt, daß er ein Gerechter sein könnte! Ist er’s wirklich, so fällt er auf der Stelle tot um. Solche Verluste können wir uns nicht leisten. Da wir noch leben, gehören wir wahrscheinlich nicht dazu und fragen besser gar nicht danach. Immerhin, eine Spur, nur eine
Spur
gerechter werden können wir Menschen und Dingen schon, aber nur, wenn sie uns als Einzelne begegnen. Ein Fall, der uns etwas angeht, ist immer speziell. Das Böse steckt in der Verallgemeinerung, in der statistischen Größe, und wir sollten sie scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Du mußt immer das
besondere
Recht suchen,
mon ami
, das allgemeine überlaß den Akademikern. Ein
wenig
gerecht sein kannst du nur von Fall zu Fall; und ganz wirst du es nie, sonst wärst du kein Mensch mehr. Jesus war so ein Fall, und sollte es wahr sein, daß er aus den zerstreuten Spuren unserer mangelhaften Gerechtigkeit einen Weg zusammensetzen kann, sogar einen Weg des Heils,
tant mieux
, aber überlaß das Ihm. Was wir als Heil suchen, kommt immer schief heraus. Dich geht nur deine Spur etwas an, das ist dein Steindes Puzzles. Und auch wenn du darin keinen Zusammenhang erkennst, behandle jeden Fleck Erde, aber auch jeden Flecken auf der Weste so, als wäre er das Ganze. Dein Puzzlestein ist der einzige Fels, auf den du deinen Glauben bauen kannst. Du darfst es auch lassen, das schadet nichts und ist vielleicht noch besser. Wenn du etwas sehen willst, wie es ist, steht dir zuviel Glaube nur im Weg.
    Auch in Lüttich blieb Hubert zweimal zwei Jahre, aber am Ende unterlief es ihm zum ersten Mal, die Gelübde zu halten, die er seiner Kirche schuldig geblieben war, Armut und Gehorsam dem Sinne nach, und die Keuschheit sogar wörtlich. Daß er jetzt anfing, sich nach Liebe zu sehnen, fand er ein gutes Zeichen.
    Es war beinahe fünf Uhr, Hubert fror, und im Kloster am See blieb es unverändert still. Offenbar war das Nachtgebet aus der geistlichen Tagesordnung gestrichen, und bis zu den
Laudes
mochte er nicht warten. Vom nahen Bahnhof war Rangiergeräusch zu hören; er ging mit steifen Gliedern zum Automaten hinüber, um eine Fahrkarte zu lösen. Er war der einzige Gast im überheizten Wagen, und kaum begann er zu rütteln, nickte Hubert ein.
    Er kam erst im Hauptbahnhof wieder zu sich. Der Fußweg zu seiner Bude führte nicht an der Chorherrengasse vorbei, aber es war nur ein mäßiger Umweg, und plötzlich hatte er Lust, sich an den neuen Arbeitsplatz zu setzen. Jetzt besaß er einen Schlüssel zum Haus mit der Sonnenuhr. Schritt für Schritt erstieg er das würdige Treppenhaus, dann die schmaleren Stufen zur Dachetage und trat mit ein paar Schritten ins Freie. Aufgeräumt und naß wie ein gescheuertes Schiffsdeck reichte die Terrasse in den Morgendunst hinaus, durch den das Vorgefühl kommender Helligkeit geisterte. Als Hubert eine Weile an seinem Schreibtisch saß, trat, wie aus treibendem Rauch, die Insel des Höhenzugs im zarten Sonnenlicht hervor. Doch dann verschwand sie wieder wie ein Phantom, und der Blick reichte nicht weiter als bis zum schwarzen Würfel am Rand der Mansarde.
    Plötzlich drangen Laute an Huberts Ohr, zuerst ungewiß, aus welcher Richtung; aber als

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