Sax
der andern und die eigene Leere. Dann setzte er sich in die Bahn und reiste nach Gent zu St. Bavo und betrachtete den siebenflügeligen Altar der Gebrüder van Eyck. Es war sein Bild, und doch sah er an den Figuren vorbei, den Anbetern des Lamms, den Darstellern einer religiösen Vergangenheit. Er vertiefte sich in die Bäume und Büsche, aus denen sie hervortraten, in die Pflanzen, die ihre Füße nicht berührten, die Landschaften, die sie halb verdeckten, in dasStadtbild am Horizont. In diesen Hintergründen und Nebenschauplätzen fand er die ganze Wahrheit seiner eigenen Seele. Er sah an all diesen wohlaufgestellten Menschengruppen vorbei in eine unscheinbare Tiefe, wo sein Blick zu Hause war. Hinter einem Baumpaar, einer dunklen Zypresse und einer etwas höheren Dattelpalme, ging eine lichte Ferne auf, in der sich nur noch Spuren sichtbaren Daseins hielten. Hier lag der Ursprung von allem, dort wollte Hubert untergehen, wie das Trunkene Schiff, damals sein Lieblingsgedicht. Wie unbegreiflich exakt und wie fremd zugleich hatten diese Brüder van Eyck jedes Blatt, jedes Gras gemalt! Hubert hatte bei Rousseau eine Stelle gefunden, die ihm aus dem Herzen gesprochen war:
Ich verdanke mein Leben den Pflanzen, nicht wirklich, aber sie haben mir ermöglicht, im Strom des Lebens weiterzuschwimmen und nicht unterzugehen, beschwert von Bitterkeit
.
Die Bitterkeit zeigte sich im Widerstand, mit dem Hubert den Manns- und Weibsbildern auf dem Altar begegnete, den gerechten Richtern, frommen Rittern, Eremiten und Pilgern, den Heiligen und Märtyrern, den Engeln mit und ohne Flügel, den Sibyllen und Propheten. Keins der Gesichter, einschließlich dasjenige des Vaters in der Höhe – oder war es der Sohn? –, das nicht von heiliger Einfalt strahlte, und manche stanken vor Eitelkeit. Dagegen war die gewachsene Natur auch gemalt, nur gemalt, ohne eine Spur von Falsch. Mit jeder pflanzlichen Existenz wurde die Kunst für Hubert zur reinen Erlösung.
Der Altar lag hinter Panzerglas. Er war zu oft zerstückelt, ausgeweidet, verschleppt und verhökert worden. Welches Stück des Altars hätte Hubert für sich gestohlen?
Eines, das original nicht mehr zu sehen war. Es lag jetzt auf der Rückseite des Altars – eigentlich der alltäglichen Schauseite, denn er hätte, außer an hohen kirchlichen Feiertagen, geschlossen bleiben müssen. Als Museumsstück aber blieb er aufgesperrt wie das Maul eines ausgestopften Hais. Hätte die Kirche noch
gelebt
, hätte man am 29. August 1963, einem gewöhnlichen Donnerstag, als Hubert die Kathedrale St. Bavo zum ersten Mal betrat, anstelleGottvaters, der Muttergottes und Johannes des Täufers ein
Stilleben
gesehen, das diese Herrschaften gnädig bedeckte. Es war Teil der
Verkündigung
, und Hubert liebte wiederum nur den kleinen Teil davon, der den
Abstand
zwischen Engel und Jungfrau illustrierte. Was machte die Kunst aus dieser heiklen Stelle, wo der Funke des Heiligen Geistes springen soll, den man sich aber nicht als männlichen Samen vorstellen darf, sowenig wie das Organ, das ihn empfängt als weiblichen Schoß?
Hier malten die Brüder van Eyck auf zwei Paneelen die
Stille
zwischen den Figuren. Auf dem linken blickte man durch ein zweiteiliges Bogenfenster auf eine Straße des alten Gent. Das rechte aber zeigte nur eine Wandnische, die zum Waschen von Gesicht und Händen dient. Sie hat, in ihrer gotischen Einfassung, ganz wenig Licht aus einem kleeblattförmigen Fenster. Das Kupfergeschirr schimmert in halber Dämmerung um so eigensinniger: der Kessel, der an einer Kette bis zur Mitte hängt, das Becken auf dem Boden der Nische. Ein straffes, doppelt gefaltetes Tuch, das an seiner Stange förmlich aus der Wand springt, schirmt die kleine Wasserstelle vor dem indiskreten Blick ab, in ganzer Länge, als wäre es eine Gardine. Dabei ist es selbst ein Gegenstand täglichen Gebrauchs, mit dem man sich Gesicht und Hände trocknet. Nur ein Linnen, aber welcher Stolz des Hauses strahlt daraus hervor, welche Würde der Reinlichkeit!
Weil jetzt alle Besucher des Bildes seine Botschaft in einem großen Figurentheater suchten, blieb das kleine Stilleben, in dem sie Hubert empfing, dauerhaft verborgen. Aber Hubert war dankbar, daß er eine gute Kopie besaß, denn hätte er das Original gestohlen, so hätte er auf der Rückseite ein Stück von Maria, dem Täufer oder gar Gott persönlich mitnehmen müssen. Dazu fühlte er sich nicht mehr imstande und nicht mehr verpflichtet.
Er war sich in den
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