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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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zurückgelegt. Oft half eine Mutter auch mit dem Kissen nach, ein nicht erlaubtes, aber das einzige Verhütungsmittel im Tal, wobei das Mißgeschick nur einem getauften Kind widerfahren durfte. Frau Rosy nahm die Gelegenheit zur Beichte ausgiebig wahr, seit der Bischof dem Dorf einen Priester aus Irland zugeteilt hatte, dem Walliserdeutsch nicht geläufig war. Da Rosy Manieren gelernt hatte, war sie ganz die Rechte, gegenseitigem Unverständnis abzuhelfen.
    Kurzum, die nächste Tochter, die Rosy gebar, gab schon in derWiege keines der Merkmale einheimischer Eigenart zu erkennen. Ein schneeweißes Gesicht, über das Sommersprossen huschten wie Laubschatten, Stupsnase, tiefblaue Augen und rotes Haar machten Anne Marie zu einem Gotteskind der besonderen Art, das denn auch früher als andere lesen und schreiben lernte. Für Hochwürden war der Anblick des Töchterchens, das seiner Messe mit Andacht zu folgen schien, eine tägliche Prüfung. Da ihm seine Oberen die Versetzung verweigerten, war es schließlich Anne Marie, die aus dem Dorfbild weichen mußte. In ihrer weitläufigen Verwandtschaft fand sich eine nach Münsterburg ausgewanderte Tante, unverheiratete Handarbeitslehrerin, die das Kind in Kost nahm. Sie kam ihren stiefmütterlichen Pflichten nach, aber sie hatte der Heranwachsenden, deren Wesen ihr ein Ärgernis oder ein Vorwurf war, die Wärme nicht zu bieten, nach der das Kind hungerte. Es hatte Heimweh nach einem himmlischen Leben, denn für dieses wußte es sich bestimmt, seit es in einem Weihnachtsspiel die Rolle des Engels mit der Lilie gespielt hatte.
    Nach dem Schulabschluß, bei dem Anne Marie wieder unter den Besten war, begann sie die Lehre bei einem Buchhändler, der katholische Theologie im Sortiment führte. Die junge Frau war noch keine Woche im Geschäft, da hielt sie nach Dienstschluß, beim Einrichten der Weihnachtsauslage hinter verhängtem Schaufenster, den Lilienstengel ihres Chefs in der Hand. Nach dem ersten Schreck schien ihr die Kenntnis, wie man sich damit zu benehmen hatte, von selbst zuzuwachsen. Keinen Augenblick lang hatte sich die Sechzehnjährige als Opfer gefühlt. Auch wenn es frivol wäre, den Mißbrauch eines Dienstverhältnisses ein Aha-Erlebnis zu nennen: es war durchaus nicht ihre eigene Abhängigkeit, die sie zu spüren bekam. Der Mann hatte mit seiner natürlichen Schwäche zielsicher ihre Stärke getroffen, die sie, von Gewissensbissen befreit, gegen ihn auszuspielen verstand. Der Lilienstengel bescherte ihr freie Tage oder eine Lohnaufbesserung, aber sie verwendete die Vorzugsbehandlung auch zugunsten anderer: ihre Kollegialität war so musterhaft wie ihre Diskretion. Mit ihr glaubte der Chef nichtszu riskieren. Dabei war sie es, die sich auf seine Angst und seine Scham verlassen konnte.
    Den Respekt für sich selbst, den sie benötigte, verschaffte sie sich als Leserin. Sie nützte ihren Arbeitsplatz zur Fortbildung, und auch wenn sie nicht sicher war, die Kirchenväter oder theologische Fachliteratur zu verstehen, so lernte sie ihr Unverständnis vorteilhaft einzusetzen. Kunden, die sich kompetent glaubten, verwickelten niemanden lieber in ein Gespräch als die attraktive junge Frau, die sich so gern etwas erklären ließ. Der Buchhändler wußte nicht, daß Anne Marie neue Ziehväter gefunden hatte, die sich nicht nur mit Belehrungen begnügten, aber keiner trübte ihre Wachsamkeit. Viele Männer betrachteten, was sie in der Hose hatten, als Zauberstab. Für sie blieb es eine Wünschelrute, und ob sie ausschlug oder nicht – Gewinn brachte sie allemal, doch einen wahren Schatz angezeigt hatte bisher noch keine. Das bloße Vergnügen blieb doch zu platt, verglichen mit der
Tiefe
, die aus Büchern zu schöpfen war. Am Ende der Lehre bedurfte der Chef kaum der Nachhilfe, ihr ein glänzendes Zeugnis auszustellen.
    Jetzt benötigte sie eine Stelle und auch eine neue Bleibe, denn bei der Tante hatte sie die Koffer packen müssen, nachdem sie drei Nächte unentschuldigt weggeblieben war. Zuerst war sie im möblierten Zimmer einer studentischen Kundin untergekommen, bis diese von ihrem Auslandssemester zurückkehrte. Danach öffnete ihr ein UNO-Funktionär seine generöse Eigentumswohnung, die er, da er eigentlich in Genf arbeitete, nur als Pied-à-terre nützte, aber er versteckte darin eine wertvolle Sammlung russischer Ikonen, die nicht ganz legal zusammengekommen war und die er nicht ohne Aufsicht lassen wollte. Anne Marie hatte ihn in der Buchhandlung kennengelernt,

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