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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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hatte.
    Warum durfte sich die Muttergottes nicht gepaart haben? Damit sie die Männer nicht beschämen konnte? Die beiden Gottmänner, Vater und Sohn, hätten dann ja merken müssen: sie ist uns über. Ohne sie hätte es nie einen Sohn gegeben. Und wenn der Vater schon eins sein will mit dem Sohn, gäbe es auch diesen Vater nicht. Eigentlich müßte sie über uns sein, wie bei vielen Heiden. Wenn sie plötzlich nicht mehr kniet und dient, sondern aufsteht? Und jeder sehen kann, wie groß sie ist? Den Männern fällt zur Muttergottes blutwenig ein. Man läßt sie hängen, irgendwo zwischen Himmel und Erde. «Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?» Könnte er mit der Mutter nicht etwas netter sein, dieser Sohn? Warum soll er sie weniger liebhaben als einen Vater, der ihn aufs Kreuz legt? Weil sie nur ein Mensch ist? So einer wurde er doch auch, und sogar der elendste. Wer war elender als er am Kreuz? Seine Mutter mußte auch noch zusehen. Und als er wieder Gott wurde, hatte er keine Stelle für sie.
    Auf den langen Nachtstrecken, wenn sie auf dem Notsitz einnickte, suchte sie im Himmel der Männer eine Stelle für sich. Im Halbschlaf kam ihr der Christenhimmel wie ein einziger Auflauf vor, bei dem jeder vermitteln will. Es muß ein Riesenstreit ausgebrochen sein, denn man hört die Vermittler durcheinanderschreien. Aber man hört nur sie. Vielleicht ist die Vermittlung selbst der Streit. Sie muß ein riesiges Geschäft sein. Aber es funktioniert nicht. Jede Stelle darin ist mindestens doppelt besetzt, oft dreifach und noch mehr. Dabei beansprucht jeder auch gern die Zuständigkeit für das ganze Geschäft. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Keiner kommt zum Vater denn durch mich. Außerhalb der Kirche kein Heil. Wovor haben alle soviel Angst? Was gibt es denn an der Welt, was so schwer zu vermitteln ist, daß Gott Zwischenträger in Anspruch nehmen muß, eine Fehlerquelle nach der andern?
Sie
sind der Fehler, aber sie verheißen uns, sie würden uns die Fehler nicht anrechnen, die wir eigentlich nur ihretwegen machen. Ist das gnädig? Warum versteckt sich Gott hinter seinen Maklern?
    Auf einem Flug nach Hongkong kommt sie dahinter. Der Fehler im System liegt nicht darin, daß die Menschen nicht an Gott glauben. Dazu kommen die meisten, irgendwie, aus Gefälligkeit, Wunschdenken oder Todesangst. Das Problem ist: Gott glaubt nicht an den Menschen. Davor hat er Angst. Schon der Gedanke wäre das Ende der Welt, und er verschleiert ihn vor sich selbst, mit einem Gewusel von Mittlern, einer Wolke von Zeugen. Heilig, heilig, heilig, sagen sie, und: du bist gut, alles ist gut, alles herrlich wie am siebenten Tag. Aber Gott weiß es anders, und keiner wagt ihm zuzustimmen.
    Wenn Marybel imstande wäre, Gott etwas vorzumachen, so viel, daß er an den Menschen glaubte, wäre sie dann nicht die Frau, auf welche die Welt gewartet hat? Sie glaubt an sich selbst. Das hat sie gelernt. Sie hat auch gelernt, Männern etwas vorzumachen – sie verlangen geradezu danach, aber natürlich sprechen sie es nicht aus. Auch Gott würde es nie zugeben, davor bewahren ihn die Vermittler. Gott kann man nichts vormachen, sagen sie. Und wenn doch? Wenn man ihm den Glauben an den Menschen vormachen müßte, für den er vielleicht keinen Grund mehr findet? Natürlich spricht alles gegen diesen Glauben, das weiß Marybel auch. Ihr macht man nichts vor. Frauen macht man überhaupt weniger vor als Männern – außer wenn sie lieben. Dann kennen sie nichts mehr.
    Sie habe noch nie geliebt, sagte der Taxichauffeur. Wenn das ein Glück wäre? Ein Vorteil für das ruhige Blut, mit dem sie Gott etwas vormacht? Ein gelungenes Leben, trotz aller Fehler Gottes, die er so grausam zu fürchten scheint, daß er Heerscharen von Mittlern unterhält, die sie schönreden? Natürlich ist das Leben nicht schön. Aber wenn man es packt, wird es ein Wunder. Marybel packt es nicht für Gott, nur für sich. Dann, wer weiß, glaubt Gott an sie. Dieser Glauben wäre das Größte. Vielleicht ging es ohne Liebe – wahrscheinlich ging es
nur
ohne Liebe, denn da kannte man nichts mehr. Ein wenig davon nahm sie sich immer noch heraus, wenn es sich so ergab. Hoffnung hatte sie nicht nötig.
    Praxis ist alles. Und dabei durfte man Gott vergessen.
    Ihr Beruf brachte sie an alle Enden der Welt, an flugfreien Tagen probierte sie allerhand; es konnte auch mal eine Woche werden. Bei Big Sur an der kalifornischen Küste nahm sie an einem Kurs teil, der betitelt war:
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