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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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beschäftigt, die in Marybels Büro zu einer juristischen Handbibliothek vereinigt werden sollten. Vom Einbaugestell, das die ganze hintere Wand des einstigen Salons bedeckte, würden viele Regale leer bleiben. Dort hatte die Spezialbibliothek für übersinnliche Phänomene gestanden, die Leus Vater angeschafft hatte, Protokolle spiritistischer Gesellschaften und Abhandlungen über Grenzphänomene, eingeschlossen das Werk Frau Dr. Fanny Mosers. Diesen eigenartigen Schutzwall eines bürgerlichen Haushalts hatten die neuen Mieter abgetragen und die Bücherkartons in die andere Etagenhälfte geschleppt, wo sie sich zu Türmen stapelten. Ob sich für die Altlast ein Käufer fand, war zweifelhaft, denn Leus Preisvorstellungen waren exorbitant. Offenbar fand er die geistige Welt entschädigungspflichtig für das Unglück, das sie in seiner Familie angerichtet hatte. Überdies war er dringend auf Einkünfte angewiesen. Achermann, Asser und Schinz hatten ihre Rechtsquellen und Weistümer zusammengetragen und sahen sich am Ende von der halbleeren Wand mit der Lückenhaftigkeit ihres Wissens konfrontiert.
    Am Nachmittag saß Achermann in seinem Dachzimmer und arbeitete sich mit der Klage gegen Gott den Allmächtigen ab, ein paradoxes Stoßgebet, mit dem er sich Seines Beistands gegen den drohenden Besuch versicherte. Er erwartete Sidonie um sechs, und der letzte Schlag war noch nicht verhallt, als er den Summer hörte. Er schlüpfte in die Jacke seines beigefarbenen Sommeranzugs undlockerte zugleich die olivgraue Krawatte, während er zum Türöffner ging. Ihre Stimme in der Sprechanlage, darauf das Klöppeln ihrer Schritte; an der obersten Treppe kam er ihr entgegen. Ihre Kopfbewegung war brüsk, wie beim Tango, als sie ihm eine Wange zur Begrüßung bot; sie duftete nach etwas Herbem und folgte ihm, ohne einen Blick für die Terrasse, geradewegs in sein Büro. Sie hatte sich schon gesetzt, bevor er sie dazu einlud, und wünschte sich nichts als ein Glas Wasser.
    Sie kommen von der Probe.
    Rosalind, «Wie es euch gefällt». Zur Hosenrolle stimmte das kurzgeschnittene, zum Bubikopf frisierte Haar. Der Verdacht, daß sie das dunkelrote Knautschlederkostüm direkt auf der Haut trug, verstärkte sich, als sie die nackten Beine übereinanderschlug. Sie trat sich die kleinen Lackschuhe von den Füßen und bewegte ihre auffallend langgliedrigen Zehen, die silbern lackiert waren, wie die Hände, die sie ums Knie gefaltet hatte. Einer Frau nie geradezu in die Augen zu sehen, hatte zum geistlichen Comment gehört, aber ein Mund kann ebenso delikat sein. Derjenige Sidonies, blaß und üppig, zuckte wie eine ausgeblutete Wunde, als sie zu reden begann.
    Kennen Sie den Mann, der in den Baum gesprungen ist?
    Ich habe ihn zum ersten Mal gesehen.
    Er hatte etwas unverschämt Indiskretes, als kenne er uns durch und durch. Wie kam er auf die Party? Hat er nichts erzählt? Sie haben ihn doch im Taxi nach Hause gebracht.
    Er hat sich nicht bedankt. Erzählt auch nichts. Er wohnt bei einem älteren Mann in Rapperswil.
    Haben Sie sich den genauer angeschaut?
    Warum sollte ich?
    Ich habe die Idee, er könnte Ihnen ähnlich gesehen haben.
    Liebe Sidonie, ich wußte nicht, daß es der Baumspringer ist, der Sie herführt.
    Ich entschuldige mich, Hubert – es kommt vor, daß ich eine Grenze überschreite. Wenn ich eine bestimmte Figur spiele, habeich selbst keine Grenze mehr. Dann ist es möglich, daß ich Menschen verwechsle. Auf Ihrem Dach war ich selbst ein wenig … jenseits. Ich weiß: Sie sind nicht Philipp von Hohensax.
    Ich wäre von mir aus gar nicht auf die Idee gekommen, sagte er und errötete.
    Dann hätte ich ihn schlecht gespielt, sagte sie, aber kommen wir zum Geschäft. Ich glaube, ich habe einen Auftrag für Sie. Doch um ihn anzunehmen, müssen Sie etwas von mir wissen. Und erzählen kann ich es erst, wenn Sie ihn angenommen haben.
    Ich nehme ihn an, sagte er.
    Sie lehnte sich zurück. Bevor sie die Augen niederschlug, hatte er sie leer werden sehen, als hätten sie keine Pupillen mehr.
    Berlin 1945, Sidonie war noch nicht zwei Jahre alt. Sirenen. Die unbekannte Person, auf deren Arm sie saß, rannte in den Bunker, Einschläge, daß die Wände bebten, plötzliche Finsternis, Stöhnen, Verletzte, Tote, Männer in Uniform, die brüllten, rauchende Häuser, Trümmer. Immer verdunkelte Räume, etwas wie eine Schminkgarderobe, Musik, schwitzende Körper in Hast. Jemand, der sich über sie beugte, Hunger. Sie lag im Arm einer Frau, die ihr

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