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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Tagen ein Auge auf seine Ikonen gehabt hatte; nun, da die Wohnung zum Daueraufenthalt geworden war, hatten die Ikonen ein Auge auf sie. Marybel kam sich verworfen vor, wenn sie durch die Galerie zürnender Greise und erstarrter Marien Spießruten lief. Auch ihre Hinterzimmer verwahrlosten, Trödelkammern der Souvenirs, die sie von ihren Flügen zurückgebracht hatte: javanische Schattenspielfiguren, chinesische Papierschirme, toltekische oder ghanaische Idole, fliegende Karpfen für das japanische Knabenfest, marokkanische Intarsienkästen, Prachtbände mit Faksimiles der Schriftrollen vom Toten Meer. Aus allen Dingen blickte sie jetzt ihre eigene Einsamkeit an und bevölkerte sich mit Gespenstern, die sich vom Tao an ihrem Hals nicht vertreiben ließen.
    Von der Abfindung der Luftlinie ließ sich fürs erste leben, und Marybel hatte auch etwas zurückgelegt, auf der Bank Schinz & Cie, dessen Chef sie persönlich beriet, als er ihr zufällig im Schalterraum begegnete. Er wurde ihr Geliebter. Es gefiel ihm, wenn sie an einen Konferenzort vorausflog, um ihn dann auf seiner Suite zu überraschen. Im Sommer 1970 glaubte sie, schwanger geworden zu sein; aber die Hoffnung hatte sich wieder in nichts aufgelöst, als sie Thomas zu einem Fest begleitete. Sein Sohn Jacques feierte mitzwei Kollegen die Eröffnung einer Kanzlei in der Altstadt. Es gab eine Mansarde, darum hatte Marybel als Einstandsgeschenk ihre japanischen Flugfische mitgebracht.
    Als sie zum ersten Mal in der Luft zappelten, war sie noch die Begleiterin eines reichen älteren Mannes gewesen, aber innerhalb weniger Stunden wurde sie ganz neu. Sie hörte nur noch Jacques’ Stimme. Dazu sah sie den bunten Fischen im Nachthimmel zu. Zum letzten Mal saß sie bei Thomas Schinz, aber sie spürte kaum noch seine Berührung. Einmal, als Jacques aufblickte, hatten sich ihre Blicke getroffen; es war ein Schlag. Er mußte gestützt werden, als er auf sein Zimmer ging. Sie aber folgte ihm nach, und alles Weitere ergab sich von selbst. Und während sie den Geruch seiner Achselhöhle einsog, spürte sie den Hauch seiner Sterblichkeit darin, die Todesstille. Sie wußte, daß sie das Leben des Menschen, der ihr noch vor einer Stunde ein Unbekannter gewesen war, festhalten mußte, um es mit ihrem eigenen Leben zu nähren. Zugleich ruhten sie miteinander im Nest ihrer Heimlichkeit. Manchmal dämmerte Marybel, aber ihr Schlummer blieb wachsam wie der einer Mutter. Sie hörte Moritz’ Stimme, ein Kommen und Gehen, das Klappen von Stühlen, das Schleifen schwerer Gegenstände. Draußen wurde aufgeräumt. Als es von einem nahen Turm viermal geschlagen hatte, hörte sie Tövets Gitarre, und dazu den Gesang.
«I never died» said he, went on to organize. Went on to organize.
Sie hörte Gläser klingen, man stieß an, auf das Ende des Festes, auf gute Heimkehr. Sie umfaßte den atmenden Körper neben ihr, so neu und so fremd, und schon näher als der eigene. Sie war zu Hause, zum ersten Mal.
    Und dann, eine unbestimmte Zeit später, ihr Entsetzen: der Geliebte war tot. Aber ein Freund war da, Hubert Achermann, und gemeinsam holten sie Jacques wieder zurück. Doch schon an diesem Morgen mußte sie erfahren: sie hatte ihn nur geliehen. Jetzt wurde ihre Liebe Arbeit an Jacques’ Leben. Er bot ihr eine Stelle an, wie zum Scherz. Für sie aber gab es schon keine andere mehr.
    Er gehörte ihr nicht, aber jetzt gehörte sie dazu. Und jetzt ahntesie, was sie bereit sein mußte, Gott vorzumachen: wie man über sich hinauswächst. Gott konnte das auch. Jetzt verlangte sie es von ihm, für Jacques. Er mußte leben.
    Am Montag morgen kam sie wieder, um sich mit ihrer Stelle vertraut zu machen. Alle waren da, Moritz, Hubert und Jacques: der Geliebte war nicht nur ihr einziger, er war einer von dreien. Sie war gleichberechtigt, aber die Praxis, die dazugehörte, mußte sich erst entwickeln. Unter Brüdern war sie Gesellschafterin, keine Angestellte. Trotzdem bat sie, einstweilen wie eine solche behandelt zu werden. Sie brauchte ein Pflichtenheft.
    Die Genossen – Marybel hatte das Wort noch nie gebraucht – waren, was ihre Praxis betraf, alles andere als dreieinig. Man gestand sich ein Grundeinkommen in gleicher Höhe zu; was darüber hinaus hereinfloß, kam in eine gemeinschaftliche Kasse und sollte verteilt werden. Ein Fünftel deckte die Betriebskosten, ein Fünftel wurde als Salär betrachtet, ein weiteres Fünftel kam in eine Kasse für «Aktionen», wozu auch Notfälle rechneten wie die

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