Sax
ab. Gelassen und wohlgeneigt lagen da das Weibliche und das Männliche nebeneinander, Kopf an Bauch und Bauch bei Kopf, die Stärke des einen bei der Nachgiebigkeit des andern und beides umkehrbar. Jedes hatte auch ein rotes Zentrum mitten in der Kopflast, die von derjenigen des anderen aufgefangen wurde. Diese Kernpunkte lagen auf gleicher Höhe wie Augen, mit denen die schwarze und die weiße Blase plastisch
sehen
konnten – die
Leibhaftigkeit
der Dinge.
Bist du Taoistin? fragte hie und da ein Liebhaber.
Früher trug ich ein Kreuz, antwortete sie.
Marybel war keine Taoistin, aber sie hatte ein Tao. Das durfte man ihr anmerken. Sex mußte auch im Kopf guttun, sonst konnte sie ihn lassen. In ihren letzten Jahren bei der Luftlinie war sie, sogar nach den Begriffen der Personalchefin, eine korrekte Stewardeß.
Aber sie bekam kein Kind.
Seit sie gefürchtet hatte, vom Patron der Buchhandlung schwanger geworden zu sein, nahm sie die Pille regelmäßig. Dann fühlte sie sich für eine Veränderung reif; warum nicht für eine Schwangerschaft? Sie begann sich Väter auszusuchen. In ihrem Kopf hatte sich der Gedanke an Brutpflege eingenistet, nur der Bauch machte nicht mit. Da nistete sich nichts ein. Etwas fehlte noch zur Verständigung zwischen beiden. In dieser Lücke erschien ihr immer wieder ein totes Kind und verfolgte sie bis in die Träume, Träume aus dem Dorf.
Damals war sie selbst noch ein Kind, vier Jahre alt. Klara blieb lange eine Große für sie, das einzige Geschwister, zu der sie eine enge Beziehung hatte. Klara war immer dagewesen, sie durfte dasBett nicht verlassen. Später erfuhr Marybel, sie habe an unheilbarem Muskelschwund gelitten, aber leiden hatte man sie nie gesehen. Sie war eben krank und würde es immer bleiben, das war ein Glück. Denn so konnte sie vorlesen, und wenn ihre Augen müde wurden, erzählte sie auch ohne Buch. Sie war blaß, wie die Feen in ihren Geschichten, aber hatte volles braunes Haar und eine starke, ein wenig schneidende Stimme. Sie kannte nicht nur gute Feen, sondern auch sehr böse, und erzählte von wilden Männern, die mit Schädeln kegelten, und von Dieben, die aufgehängt wurden; dann wuchs unter dem Galgen das Hexenkraut. Menschen wurde die Haut über die Ohren gezogen, sie mußten nicht einmal böse sein, und wenn kleine Buben in eine Schatztruhe spähten, schlug ihnen der Deckel den Kopf ab. Am liebsten hörte Marybel die Geschichte vom bösen Herrn Korbes, den Hühnchen und Hahn, Nähnadel und Stecknadel verfolgten, aber auch ein Mühlstein, der ihn am Ende platt machte, obwohl man nie erfuhr, was er ihnen eigentlich getan hatte. Nadeln konnte man auch im eigenen Laden kaufen, und Klara brauchte nicht auszusprechen, daß der böse Herr Korbes eigentlich der Vater war.
Eines Tages aber lag sie im Hinterzimmer des Ladens in einer erstaunlich kleinen Kiste auf zwei Böcken. Auch das Gesicht war sehr klein und immer noch gleich blaß. Doch sein Ausdruck hatte sich verändert; Klara lächelte. Sie war zum ersten Mal keine Große mehr. Marybel hatte gedacht, Klara werde krank bleiben, aber jetzt war sie ein totes Kind. Sie hielt einen Strauß Maiglöckchen in den gefalteten Händen. Wäre sie lebendig gewesen, sie hätte ihn gleich fallen lassen. Auch ein Brautkleid mit Schleier hätte sie nie getragen.
Nach dem Mittagessen schlich Marybel allein zu Klara und beugte sich vorsichtig über sie. Tod mußte doch einen Geruch haben. Aber es waren so viele Blumensträuße im Raum. Dann sah Marybel, wie sich auf Klaras Lid eine goldgrüne Fliege setzte und mit dem Rüssel darauf herumtastete. Das mußte Klaras Seele sein.
Das Bild der Schwester stand immer noch fest. Sie war zwölfjährig gestorben und geblieben, aber sie schien auch mit jedem Jahr soviel jünger wie Marybel älter geworden war. Die Schwester wurde endlich das Kind, das sie nie hatte sein dürfen, und etwas an ihr war in die Frau übergegangen, die Marybel an ihrer Stelle geworden war. Vielleicht war sie auch das Kind, das nicht zu ihr kommen wollte. Wo blieben die Toten, wo warteten sie darauf, sich wieder zu verkörpern? Warum legten sie sich quer und verweigerten eine Geburt? War die Tote beleidigt, als Marybel ihr entwachsen war, in ein weibliches Leben, von dem sie nicht einmal hätte träumen dürfen? Und piekte jetzt nach ihr wie die zornigen Nadeln nach dem bösen Herrn Korbes?
Im Herbst ’69 hatte sie ihre Stelle gekündigt. Sie logierte immer noch bei ihrem UNO-Beamten, wo sie an flugfreien
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