Sax
Bäume hinterm Schulhaus. – Am andern Tag um fünf, es war schon dunkel, erwartete er mich. Wir singen ein Lied zusammen, sagte er, und sang mir vor:
«Nach em Räge schint d’ Sunne, nach em Briegge / Wird g’lacht – duli, duli duli-o …»
– der Schlager war damals in aller Munde. Robert sagte: das singen wir jetzt mal richtig deutsch. «Nachm Reegen schaint die Sonne, nachm Brie-ge – würd gelacht,ha, ha, ha», bellte er mir vor, und ich mußte es nachbellen. Ich hatte keine Ahnung, daß er die Rolle der häßlichen Deutschen mit mir probte, doch er schwor, gerade so komme es bei Schweizern am besten an. Am Ende erklärte er: ich gebe dir jetzt einen Kuß. Ich erstarrte, und bevor er ging, sagte er: morgen proben wir weiter. Ich kam wieder, bellte Ha, ha, ha und bekam meinen Kuß, so ging es auch am nächsten Tag, und jedesmal zog er mich tiefer ins Wäldchen. Am Schulsilvester darf man alles, sagte er, auch rauchen. Und diesmal küßte er mich nicht nur, sondern nahm meine Hand und führte sie an seinen Hosenschlitz. Plötzlich hatte ich etwas Steifes in der Hand und zuckte zurück. Das stecke ich in deine Möse, sagte er, und obwohl ich das Wort nicht kannte, schüttelte ich heftig den Kopf. Als er mir die Strumpfhose herunterziehen wollte, gab ich ihm eine Ohrfeige und rannte weg. Glauben Sie, daß ich danach mit Robert noch aufgetreten bin?
Achermann schwieg.
Der Lehrer saß am Pult, das mit Tannenreisig geschmückt war, zwischen Apfelsinen brannten Kerzen, ich hatte mich mit Robert aufgestellt, wir hatten den Text geblökt, ich hatte mein Kunstlachen geliefert, danach blieb es ganz still. Und Robert rief laut: Sidi wird ein Star. Und jetzt sagt sie uns noch, wo sie wohnt.
Im «Gugger».
Im Guuga, äffte mich Robert nach. Ein Huronengebrüll brach los, und ich verstand gar nichts mehr. Was war lustig? Ich machte beim Lesen und Schreiben kaum Fehler und stand plötzlich am Pranger. Ich begriff nur soviel: Robert hatte mich verraten. Der Lehrer ließ die Klasse toben, es war ja der letzte Schultag. Dann sagte er: Sie ist eine Deutsche. Sie denkt eben, das sagt man so. Und auf dem Heimweg sangen mir die Kinder nach: Sidisidi Guuga, hastne schöne Fuuga, laß mich auch mal luuga. Verstehen Sie das? Aber ich langweile Sie.
Achermann hatte aus dem Fenster geschaut, auf den schwarzen Würfel, der einen langen Schatten über die leere Terrasse warf. Sein Blick ging aus Not beiseite, das wußte sie nur zu gut, sonstblieb er an einer Stelle haften, deren Nacktheit eigentlich nicht möglich und doch fast unzweifelhaft war.
Bitte reden Sie weiter, sagte er heiser.
Ich bin gestorben, bei lebendigem Leib, aber den kriegte ich auch noch weg. Ich verweigerte Essen und Trinken. Der Arzt wußte nicht mehr weiter. Da holten die Wirz’ meinen
Götti
, der gerade in der Schweiz war, Friedrich Traugott Wahlen. Sagt Ihnen der Name etwas?
Der Vater der Anbauschlacht, sagte Achermann. – Für meine Eltern war er ein Nationalheiliger, gleich nach General Guisan. Er hatte alle Schweizer zu Bauern gemacht, die sich selbst durch den Krieg füttern konnten. Später wurde er auch Bundesrat.
Richtig, sagte sie, aber damals war er nur mein Götti. Er saß an meinem Bett und nahm meine Hand. Er hatte eine zarte Frauenstimme und war sehr fromm. Sidonie, sagte er, ich bin da, du mußt
nid briegge
. Er erzählte von der Freiheitsstatue in New York, den Wolkenkratzern, den unkomplizierten Amerikanern. Sie hatten ihm ein Amt gegeben, Direktor der FAO. Er durfte dafür sorgen, daß die Kinder auf der ganzen Welt keinen Hunger mehr leiden mußten. Brot, Reis und Hirse reichten für alle, man mußte sie nur besser verteilen, und das dürfe er jetzt tun – der Herrgott tue es durch ihn, das mache ihn demütig. Zum Glück genieße die Schweiz Vertrauen, einen Schweizer sehe man überall gern. Darauf dürften wir doch ein wenig stolz sein. Ob er mit mir beten dürfe? Wenn man Sorgen habe, dürfe man sie immer getrost auf Ihn werfen. «Werfen», sagte er, und mir kamen Schneebälle in den Sinn. Erst hat er das Vaterunser mit mir gebetet und meine Hände zwischen seine genommen. Und dann sagte er mir noch Verslein auf:
So legt euch denn, ihr Brüder, / In Gottes Namen nieder, / Kalt ist der Abendhauch. / Verschon uns, Gott, mit Strafen, / Und laß uns ruhig schlafen, / Und unsern kranken Nachbarn auch.
Ich hörte die Engel singen, und in diesem Augenblick wußte ich: ich war wirklich tot.
Sie hatte die Augen weit aufgerissen, er
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