Sax
den Kopf in dickes Wollzeug preßte, während sie die Flasche bekam. Diese Frau war ein Lieder summender Berg. «Ich glaube, ich habe anfangs nur unter der Erde gelebt.» Aber dann wurde es Licht, grell, auch nachts. Ein Auto kam, mit Männern, die fuhren mit ihr durch Schutt und Trümmer zu einem großen Haus im Wald. Da waren schon viele andere Kinder, manche lagen im Bett, und eine Mutter gab es auch, aber nur eine für alle. Sidonie fror fast immer, aber sie bekam zu essen und durfte spielen. Lieder lernte sie auch. Manche Kinder verschwanden wieder, sonst blieb sich alles jeden Tag gleich, im Haus stand die Zeit still. Erst in der Schule verging sie stundenweise, sie stand im nächsten Dorf, die Kinder wurden im grauen Bus hingefahren, und der Fahrer trug Uniform. Man saß in Reihen und zeichnete die Buchstaben nach, welche die Lehrerin an die Tafel schrieb, deutsche, russische. Sidonie wußte fast immerdie richtigen Antworten, sie lernte auch, daß sie eine Waise war. Ihre Eltern waren von bösen Menschen mitgenommen und getötet worden, jetzt suchte man neue Eltern für sie. Plötzlich – immer geschah lange nichts, und dann immer plötzlich – mußte sie ihre Sachen packen. Ein Auto mit einem roten Kreuz. Es fuhr mit ihr zu einem kaputten Bahnhof, und jetzt sah sie überall rote Kreuze: an den Waggons, sogar am Häubchen der Schwester, die sie in Empfang nahm. Der Zug war voller Kinder in geflickten Kleidern, viele weinten und riefen Mama, es gab zu essen für alle, Butterbrot, Apfelsinen, Schokolade und ein Getränk namens Ovomaltine. Wenn die Fenster zu spiegeln begannen, verwandelten sich die Sitzbänke in Betten, man wurde in den Schlaf gerüttelt, fuhr dann wieder bei Licht über blühendes Land und durch zerstörte Städte. Endlich kam man in einer an, die war ganz. Vor vielen Fenstern blühten Blumen, die Bahnhofstafel war weiß und blau, und Sidonie konnte sie lesen: Basel SBB. Plötzlich waren die Kreuze weiß statt rot, und sie geriet in eine verkehrte Welt. Die Leute bellten oder wimmerten nicht, sie plauderten und lachten, es gab zu essen, soviel man wollte, und wenn man aufwachte, waren die Häuser immer noch ganz.
Ich glaubte nicht, daß diese Welt richtig war. Es war die Welt, wie sie sein muß. Es gab Menschen, die hier zu Hause waren. Davon konnte ich nur träumen. Ich war neun Jahre alt, als ich in ein Kinderheim im Tessin kam. Hier durfte ich länger bleiben als alle, die noch Eltern hatten. Aber eines Tages sagte mir die Heimmutter, ich würde auch bald Eltern kriegen. Und dann holten sie mich ab. Sie hatten einen Bauernhof hoch über einem See. Da durfte ich bleiben. Der Mann war lustig, das war jetzt mein Vater. Die Frau war freundlich, das war jetzt meine Mutter. Ihre Sprache verstand ich noch nicht, aber gehört hatte ich sie schon im Heim. Und sie gaben sich Mühe, meine Sprache zu sprechen. Manchmal durfte ich ihnen sagen, wie etwas heißt. Sie beteten auf hochdeutsch. Später bekamen sie ein eigenes Kind. Da hatte ich Angst, ich müsse wieder gehen. Aber die Eltern sagten: Jetzt hast du ein
Schwösterli
, das Vreneli. Ich hätte es gern liebgehabt, aber es fürchtete mich.Schon als es klein war, konnte ich ihm nichts recht machen. Wenn ich mit ihm spielen wollte, begann es zu weinen. Später schrie es mich an. Als das Müetti starb, sagte mir Vreneli: Du hast es getötet. Da war es elf, ich dreizehn und ging ins Gymnasium. Es war viel krank und wollte Vati für sich allein haben. Das war mir ganz recht. Jeden Tag fuhr ich mit dem Zug in die Stadt, und eines Tages ging die ganze Schule ins Theater – Schillers «Tell», das war obligatorisch. Da spürte ich: Das Leben auf der Bühne ist das wahre. Da kann man spielen, worüber man sich nicht zu reden traut, und bekommt noch eine wunderbare Sprache dazu. Ich schlich mich in die Proben, und eine Schauspielerin, die selbst aus Berlin geflohen war, wurde meine Freundin und verschaffte mir Karten für die richtige Vorstellung. Jetzt war ich fast jeden Abend im Theater. Für die Schule lernte ich nicht mehr. Aber ich habe mich durch die Matura gezaubert. Das war meine erste Talentprobe. Dann ging ich an die Schauspielschule. Vater Wirz glaubte nicht, daß ich Talent hätte, doch abschlagen durfte er mir nichts. Verena hielt mich für eine Schauspielerin, aber es war nicht als Lob gemeint. Auch sie wollte keine Bäuerin werden. Sie machte eine kaufmännische Lehre. Mit achtzehn Jahren bekam sie eine Stelle in der Bankgesellschaft, und
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