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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Vater Wirz schenkte ihr einen Sportwagen. Er gönne sich endlich etwas, sagte er. Er verspielte viel Geld, spendete aber auch seiner Kirche, und wenn er allein war, trank er. Den Hof hat er verpachtet, nur den Kirschgarten behalten. Letztes Jahr ist er von der Leiter gefallen und innerlich verblutet. Ich lebte seit Jahren in meiner WG. Aber in seinem Testament kam sein schlechtes Gewissen zum Vorschein. Ich wurde gleich bedacht wie Verena. Bares Geld ist nicht viel übrig, aber der Hof ist schuldenfrei und hat dreißig Hektar, davon zehn Bauland. Man könnte verkaufen und hätte ausgesorgt. Aber jetzt verlangt Verena die ganze Erbschaft. Meine Adoption sei aufgrund eines Betrugs zustande gekommen.
    Das Ehepaar Wirz habe sich ein Judenkind ausbedungen, weil auch Herr Jesus ein geopferter Jude gewesen sei. Dafür gebe es Beweise in der Korrespondenz von Mutter Wirz. Ich sei aber garnicht jüdisch, meine Papiere seien falsch. Ich hieße nicht Sidonie Rosenstiel, sondern Sabine Becker, und auch eine Vollwaise sei ich nicht, denn meine leibliche Mutter existiere noch. Verena habe die alte Dame besucht, deren Adresse sie mit Hilfe eines Berliner Privatdetektivs und seiner Verbindungen zur DDR-Staatssicherheit ermittelt habe. Die achtzigjährige Frau Becker lebe, teilweise gelähmt, von einer kleinen Rente des Arbeiter- und Bauernstaates in Güstrow. Sie sei in ihrer Jugend Tänzerin gewesen, habe später hinter der Ostfront der Wehrbereitschaft deutscher Offiziere gedient und ein unerwünschtes Kind dank guter Beziehungen in einem Heim zur Erhaltung der Volkskraft untergebracht. Nach dem Krieg habe sie, diesmal als Freundin eines russischen Generals, dafür gesorgt, daß das Kind zu einer neuen Identität kam und zur Chance, sein Glück zu machen. Luise Becker habe sich als junges Ding durch den Weltuntergang geschlängelt und für ein Kind, das sie nicht behalten konnte, das Möglichste getan. Sie habe sich oft gefragt, was aus ihm geworden sei, und sei jetzt erleichtert zu hören, daß es in der Schweiz ein Elternhaus gefunden und sein Glück gemacht habe. Sie habe der Besucherin ein Foto des Säuglings gezeigt, das späteren Kinderbildern Sidonies geähnelt habe. Sie habe dem Kind gegönnt, daß es kein Opfer geworden sei wie ihre Mutter – damit meinte sie sich selbst.
    Achermann hatte wortlos zugehört; Sidonie spielte auch die böse Schwester überzeugend. Sie saß wie angefroren, und ihre Hände hielten sich aneinander fest, als wäre ihnen jede Bewegung verboten.
    Und, ist das die Wahrheit? fragte Achermann.
    Sidonie hielt sich an den Armstützen fest und fragte: Kümmert Sie das?
    Juristisch betrachtet … begann Achermann, da wiederholte Sidonie heftig:
Kümmert Sie das?
    Sie wollen meinen Rat als Anwalt, sagte Achermann, und das heißt, daß ich die Klage Ihrer Schwester lesen muß, bevor ich mit einem Urteil dienen kann.
    Und wenn Ihr Urteil gegen mich ausfällt, übernehmen Sie das Mandat nicht?
    Ich habe es schon angenommen. Aber zwischen uns möchte ich wissen, was ist.
    Darf ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen? fragte sie.
    Im Kinderheim von Morcote habe ich nur hochdeutsch gesprochen. Als ich nach Überseen kam, hat mich der Lehrer schon am ersten Schultag für mein gutes Hochdeutsch gelobt – ich dachte, es sei ein Lob. Doch alle Kinder redeten Mundart, und da sie nicht mit mir spielten, habe ich es nie gut gelernt. In der fünften Klasse kam ein Neuer, der wurde gleich zum Star. Er hieß Robert und war Auslandschweizer, in Bremen aufgewachsen. Anfangs konnte er auch nur Hochdeutsch. Er wohnte bei einer Tante, denn seine Mutter war gestorben und der Vater auf einem Hochseefrachter unterwegs. Auch Robert wollte Kapitän werden. Die Mädchen himmelten ihn an, die Jungen beneideten ihn, aber er blieb immer kurz – und redete bald nur noch Mundart, auch mit mir. Vor Weihnachten sprach er mich plötzlich auf hochdeutsch an. Sidi, wir machen für Schulsilvester eine tolle Nummer. – Wer? fragte ich. – Du und ich. Wir zeigen denen mal, wie das klingt, richtiges Hochdeutsch.
    Schulsilvester war der letzte Schultag im Jahr, an dem man schon in aller Frühe Unfug treiben durfte. Dann ging man nochmals ins Schulzimmer, aber nur, um Theater zu spielen, sogenannte Produktionen, bei denen man sich verkleidete und auch den Lehrer auf die Schippe nahm. Mich hatte noch niemand dazugebeten. Und nun gerade Robert! Treffen wir uns morgen abend um fünf vor dem Wäldchen, sagte er, das war ein Dickicht junger

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