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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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sah, wie sie sich langsam mit Tränen füllten, und sein Geschlecht hatte sich erhoben. Schamund Entsetzen machten es nur stärker, sie konnte es nicht mehr übersehen und dachte auch nicht daran. Laut weinend oder singend sprang sie auf, und bevor er eine Hand rühren konnte, hockte sie mit gespreizten Knien auf seinem Schoß, legte den Kopf an seinen Hals, tastete mit beiden Händen heftig nach seinem Hosenschlitz und ruhte nicht, bis sie das rohe Fleisch enthüllt und verschlungen hatte; dann begann sie es weichzureiten wie eine galoppierende Tatarin.
    Der Raum dämmerte, als er halbwegs zu sich kam. Er lag mit einer unkenntlich gewordenen Person am Fuß des Büchergestells, das der Bewegung Halt geboten haben mußte; sie waren noch immer verhakt, aber nun stemmte er sich von ihr weg, um ihr Gesicht zu entziffern.
    Sie dürfen mich auch küssen, hörte er. – Am letzten Schultag darf man alles.
    Seine Lippen stießen an ihre Stirn und schmeckten Blut; sie mußte sich gestoßen haben. Aber auch sein Ohr fühlte sich wund an, und er wußte, daß seine Glieder gleich an vielen Stellen schmerzen würden.
    Sidonie! flüsterte er.
    Finden Sie nicht hin? fragte sie. – Wo es redet, sind meine Lippen.
    Sie verschlangen ihn, kaum hatte er sie berührt, und während ihre Zunge seinen Mund aussaugte, summte ihre Kehle. Allmählich erkannte er die Melodie: «Ein Männlein steht im Walde».
    Und zu seiner Verwunderung fing es wieder zu stehen an.
    Als er das nächste Mal die Augen öffnete, lag das Zimmer im Dunkel.
    Ich bin hier, sagte es mit klarer Stimme. – Bitte machen Sie kein Licht.
    Es dauerte, bis er sich notdürftig hergerichtet hatte. Die schwache Helligkeit des Nachthimmels im Fenster ersparte ihm Feinheiten der Wahrnehmung; das konnte nur vorteilhaft sein. Er fühltesich besudelt, nicht nur am Körper. Noch nie war ihm so viel Gewalt angetan worden.
    Wir wollten die Sache juristisch betrachten, sagte Sidonie aus dem Sessel, in dem sie saß, als wäre nichts gewesen als ein Stromausfall, von dem man sich nicht länger stören ließ.
    Für die Eifersucht meiner Schwester war ich ein schlechtes Judenkind, sagte sie. – Nun, da Wirz gestorben ist, soll ich auch noch ein
falsches
Judenkind sein. Daß ich das Kind eines Nazis bin, behauptet sie noch nicht – das spart sich ihr Anwalt für die nächste Runde. Fürs erste reicht, daß ich mich als Diebin in die Schweiz eingeschlichen habe. Ich habe Verena, das rechte Kind ihrer Eltern, ihr Leben lang verkürzt. Jetzt will sie
alles
, und dafür soll ein Schweizer Gericht meine Nichtigkeit erklären.
    Ich war ein schlechtes Kind, das ist die Wahrheit. Ich habe die brüchige Stimme Müettis gehaßt, wenn sie sich selbst am Harmonium begleitete. Sie war, was man eine seelengute Frau nennt, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie mir der Geruch dieser Seele widerstand. Sie hat ihren Mann noch verlogener gemacht. Ich glaube ihr, daß sie mich adoptieren wollte, weil ich vom Stamm ihres Erlösers war. Damit sammelte sie Punkte im Himmel, und mit ihrer Nachhilfe würde ich ja noch sein Licht sehen. Das war dann das Werk ihres Gebets, in das sie mich täglich einschloß.
Einschloß
, Hubert Achermann. Ich habe bald überhaupt kein Licht mehr gesehen – bis ich auf eine Bühne kam. Aber jetzt will ich das Judenkind sein, das ich nicht bleiben sollte. Ich bin nicht mehr bekehrbar, nicht durch Verena und ihre Klage. Sie hat sich nie etwas gegönnt, sagt sie. Aber mir noch etwas weniger – das sagt sie nicht. Das Erbe, das sie mir abspricht, ist meins –
weil
ich es nicht haben soll. Ich weiß, wer ich bin und was ich nicht bin, denn ich mußte mich selbst schaffen, Hubert, ganz allein. Und wenn ich vor Gericht ziehen muß, dann nur mit einem Anwalt, der mir
glaubt
.
    Ich glaube, Sie sind im Recht, sagte Achermann. – Eine Adoption, die einmal von Schweizer Behörden als gültig betrachtet wurde, hat das Gewicht des Faktischen und ist nicht revidierbar.Davor hält die Klage Ihrer Schwester nicht stand. Wenn das Testament Ihres Vaters sonst keine ernsthaften Mängel hat, ist es gültig.
    Aber? fragte sie.
    Ohne Wenn und Aber, juristisch. Doch wenn Verenas Anwalt den Fall an der Frage aufhängt, ob Sie nun wirklich Jüdin sind oder nicht, dann nützt auch ein gewonnener Prozeß nichts, man wird Ihnen doch einen Strick drehen. Da reicht das Recht nicht hin. Da beginnt das Vorurteil, die üble Nachrede, der Rufmord.
    Also? fragte sie.
    Ich möchte Sie nicht zu Ihrem Nachteil

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